Du siehst es nicht mehr (Tag 28)

Mein geliebter Schatz!

Was mir sehr zu schaffen macht, sind die vielen Dinge, Ereignisse und Alltagsgeschichten, die du nicht mehr erlebst.

Das Wohnzimmer ist ausgemalt, endlich – du siehst es nicht mehr.
Deine Fichte sieht furchtbar aus – du siehst es nicht mehr.
Niemand wärmt meine kalten Füße im Bett – du spürst es nicht mehr.
Ob wir deine Besitztümer einlagern, wegwerfen oder einfach liegen lassen – es hat für dich keinerlei Bedeutung. Du brauchst sie nicht mehr.

Alles, was wir tun, was du je getan hast, worüber du dich geärgert, gefreut, gelacht hast – es ist gleich-gültig.

Gleich-gültig im Sinne der einzelnen Begriffe, es hat also alles die „gleiche Gültigkeit“. Nicht im Sinne von „egal“. Natürlich ist es nicht egal, was du je getan hast. Natürlich ist es schön, dass du (hoffentlich) mehr gelacht hast als dich zu ärgern, aber ob deine Fichte nun am Leben bleibt oder nicht – für dich hat das keine Bedeutung mehr.

Warum ärgern wir uns dann überhaupt, strengen uns an, bemühen uns? Warum „brauchen“ wir unbedingt den neuesten Fetzen, die tollen Schuhe, den größeren Fernseher, die neue Wandfarbe? Irgendwann ist das alles für jeden von uns ohne Bedeutung, es ändert nichts.

Nichts ändert etwas, ob wir gut leben oder nicht, ob wir 100% geben oder nur 50%, ob wir ehrlich, fleißig oder stinkfaul sind – es verlängert nicht unser Erdenleben. Ist unsere Zeit vorbei, war es das.

Wenn mal jemand früh starb, war dein Standardsatz: „Der wäre eh nicht mehr gewachsen.“ So oft hab ich den von dir gehört. Nicht weil du emotionslos warst, sondern weil du die Tatsache an sich einfach pragmatisch hingenommen hast. Ist halt so, gehört zum Leben dazu. Es ist gleich-gültig.

Ich mach mir viele Gedanken um das Leben und den Tod, seit du nicht mehr bei mir bist. Was ist überhaupt noch wichtig, wofür lohnt es sich noch zu kämpfen, welches Ziel ist es wert erreicht zu werden?

All die vielen Diskussionen, weil man Recht behalten will, all die Jagd nach Anerkennung, nach Geld, nach Besitztümern – reine Energieverschwendung. Doch lässt man das sein, bleibt nicht mehr viel übrig, wofür es sich zu leben lohnt.

Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod, auch nicht vor dem Sterben an sich. Es ist die einzige Möglichkeit wieder mit dir vereint zu sein, warum soll ich mich davor fürchten?

Angst haben die, die noch etwas erleben möchten, nichts verpassen wollen, in all die Alltäglichkeiten verstrickt sind. Ich möchte ohne dich nichts erleben. Du warst alles für mich – und jetzt hab ich nichts mehr.

Ich scheitere ohne dich, Tag für Tag. Du hättest das Wohnzimmer viel schöner ausgemalt, ohne Flecken und Fehler. Du hättest heute Früh ein Machtwort gesprochen, als Lucy ihren Kopf durchgesetzt hat und nicht zur Schule ging. Du hättest das Haus sauberer gehalten. Ich schaffe nichts von alledem, bin immer nur halbgut, kriege nichts auf die Reihe, kann mich nicht durchsetzen. Ich scheitere tagtäglich und es ist niemand mehr da, der mich auffängt und wieder motiviert – oder es wieder „gut macht“ – du kannst es nicht mehr.

Ich enttäusche alle nur, sie freuen sich mit mir über einen guten Tag, an dem es mir besser geht, hoffen auf einen zweiten und dritten. Und der kommt dann nicht.
Ich enttäusche mich selbst, weil auch ich hoffe, dass es bergauf geht.
Ich enttäusche dich, weil ich es einfach nicht schaffe.

Du hast mir wieder und wieder gesagt, ich solle mich nicht selbst schlecht machen. Du warst immer stolz auf mich. Ich hab dir nie geglaubt. Jetzt weiß ich es – an dich werde ich niemals heranreichen. Lieb gemeinte 3 von 10 Punkten.

Vielleicht hätte ich es zu Lebzeiten geschafft, etwas zu machen, was auch in meinen Augen gut genug gewesen wäre – aber jetzt bist du für imner mein Maßstab und diese Messlatte ist unerreichbar. Und selbst wenn ich es einmal schaffen sollte – du siehst es nicht mehr.

Diese Tatsache, dass nichts, absolut nichts etwas daran ändert, dass du nicht mehr da bist, erdrückt mich. Sie lähmt mich, weil es einfach völlig egal ist, was ich tue, wie ich lebe, was ich empfinde – du teilst es nicht mehr mit mir.

Ja, ich bin egoistisch geworden, nehme keine Rücksicht auf mein Umfeld, mute meiner Familie meine Gedanken zu, vernachlässige unsere Kinder, weil ich in meinem eigenen Schmerz gefangen bin, versinke in Selbstmitleid, als wär ich die Einzige, die leidet. Nur mein Schmerz zählt, alle anderen haben es sicher leichter. Als ob es einen Wettbewerb gäbe, wer betroffener ist. Was gibt es da zu gewinnen? Die goldene Ananas?

Die anderen haben noch ihren Partner, ihre Familie, die Kinder werden groß werden und ihr eigenes Leben leben – nur ich bin arm und bedauernswert. Ich hasse mich dafür.
Du hättest Rücksicht genommen auf deine Lieben, du hättest nicht noch zusätzlich alle belastet, du hättest still getrauert.
Ich kann das nicht, möchte meinen Schmerz hinausschreien, jeden Einzelnen schütteln und ihm einprügeln, wie dankbar und glücklich er zu sein hat, dass er leben und lieben darf.
Ich habe nicht die Größe dazu, und das tut mir leid. Leid für alle um mich, die sich bemühen, helfen, da sind. Sie können nicht helfen, weil ich es nicht zulasse. Aus Angst, dass sie mir wirklich helfen könnten und mein Schmerz und meine Trauer weniger wird, leiser, erträglicher.
Ich will aber nicht, dass er weniger wird, dass die Trauer abnimmt – sie ist für mich “Liebesbeweis”. Ich hasse mich für die guten Tage – wieso kann ich ganz normal weiterleben, wenn du doch gar nicht da bist? Hab ich dich nicht genug geliebt?

Du hättest mit mir geschimpft bei solch blödsinnigen Gedanken, das weiß ich. Abstellen kann ich sie trotzdem nicht. Wie soll ich je wieder wissen, was richtig und falsch ist ohne deine Meinung dazu, dein Feedback?

Ich habe so viele Fragen, auf die nur du die Antwort kennst. Wie soll man weiterleben, wenn man nichts mehr weiß? Wie soll man den Kopf freikriegen bei all den vielen Fragen?

Ich muss lernen, die guten Tage besser zu nutzen, so vieles bleibt dauernd liegen.
Der Installateur gehört angerufen, mein Wasserhahn im Geschäft tropft immer noch.
Harald gehört angerufen um sich den Sicherungskasten im Geschäft anzusehen, ich kriege die Zeituhr für die Auslagenbeleuchtung nicht mehr richtig hin.
Susanne gehört angeschrieben, damit die Autoummeldung endlich erledigt ist.
Ich muss den Silvesterurlaub stornieren.
Ich muss eine Finanzübersicht erstellen, damit wir wissen, was wir haben und wie wir zurechtkommen.
Ich muss dein Büro so umräumen, damit ich meines leer kriege.
Ich muss meinen Schreibtisch und das Hochbett zum Verkauf anbieten oder herschenken. Dazu muss ich es fotografieren.
Ich muss Norbert die ganzen Golfsachen zum Verkaufen bringen – wir brauchen sie nicht mehr.
Ich muss all deine Accounts und Abos abmelden – du brauchst sie nicht mehr.
Ich muss meine Softwarefirma von der Registrierkassa kontaktieren, da klappt was nicht wie gewünscht.
Ich muss eine Menge Rechnungen bezahlen.
Ich muss eine Menge Sachen abmelden, die ich nicht mehr brauche, um Geld zu sparen.
Ich muss die Dankeskarten schreiben und Anton übergeben, damit er sie verteilen kann.

Ich muss so viele Dinge tun und erledigen und kann es nicht. Schiebe sie vor mir her, “vergesse” sie im richtigen Augenblick, denke erst spät abends dran, wenn es zu spät ist. Ich versage auf ganzer Linie. Was davon kann ich abgeben, was kann jemand anderer für mich erledigen? Ich weiß es nicht, kann es nicht sortieren und zuteilen.
Es überfordert mich, solche Entscheidungen zu treffen.
Alles überfordert mich.
Es überfordert mich, einen Termin zu vereinbaren, weil ich nicht weiß, wann ich zeit habe. Immer? Nie? Ich weiß nicht, was morgen ist, wie soll ich dann wissen, ob ich nächste Woche Zeit habe?
Es überfordert mich, den ganzen Tag im Geschäft im Geschäft zu sitzen und keine Zeit für die Arbeiten daheim zu haben.
Es überfordert mich, daheim zu sein und nicht zu wissen, wie ich den Tag füllen soll mit Tätigkeiten, die mich ablenken.

Ich weiß nicht mehr, was ich will.
Wenn ich im Geschäft bin, verfluche ich meine Entscheidung es zu eröffnen, es interessiert mich nicht mehr. Ich möchte daheim sein, um in deiner Nähe zu sein und es mir/uns kuschelig zu machen. All die privaten Dinge erledigen, Zeit haben. Zeit für mich, Zeit für Lucy.
Wenn ich daheim bin, kann ich nichts mit mir und meiner Zeit anfangen, freue mich, wenn ich ins Geschäft flüchten kann, wenn ich nicht auf dein Bild starren kann.
Wenn ich daheim bin, bin ich froh über meinen Laden, er wird uns am Leben erhalten, wir brauchen ihn, um Geld zu verdienen.
Wenn ich in der Arbeit bin, erscheint mir das alles sehr sinnlos, der Laden frisst zu viel an Ressourcen, ich sollte mir einen Halbtagsjob suchen, wo ich sicher mein Geld bekomme, Lucy nachmittags nicht allein lassen muss.

Die Balance fehlt – der Tag hat nicht genug Stunden für all die Trauer, die Gedanken, den Alltag, die Arbeit, die Erledigungen. Und gleichzeitig viel zu viele, um ihn zu überstehen – ohne dich.

Mittag

Es ist, als ob ich mich bei dir ausgekotzt hätte heute Früh und du hast mal kurz das Kommando übernommen. Seit ich all diese Punkte niedergeschrieben habe, arbeite ich einen nach dem anderen ab. Installateur angerufen, Kassasoftware kontaktiert, Elektriker kontaktiert, Emails wegsortiert, Veranstaltungskalender aktualisiert usw. So, als hätt ich nie etwas anderes getan als strukturiert und konsequent die Punkte der ToDo-Liste abzuarbeiten. So wie du es immer gemacht hast: konzentriert auf das was ansteht, ohne sich ablenken zu lassen oder vorzeitig aufzuhören.

Danke mein Engel für deine Hilfe. Wieder hast du mir die Kraft und deine “Perfektion” überlassen, damit ich etwas schaffe. Ich spüre, wie du hinter mir stehst, die Hand auf meiner Schulter, dich zu mir beugst und mich auf mein Ohr küsst (schmatzend und grinsend, nicht romantisch zärtlich) und sagst: “Na? gehts wieder? Hau doch nicht immer gleich die Nerven weg, ist doch alles schaffbar. Nicht immer soviel auf einmal, immer eins nach dem anderen.”

Jetzt wirds spirituell…

Auch wenn du nicht mehr alles siehst, erlebst, nicht mehr überall mit dabei bist – du bist da, wenn wir dich brauchen, wenn gar nichts mehr geht, wenn kein Licht mehr brennt. Dann bist du so präsent, das sich dich spüren kann, deine Anwesenheit, deine Nähe. Deine Persönlichkeit, deine Liebe – nur nicht dein Körper. Du siehst jetzt anders, fühlst jetzt anders, sprichst jetzt anders, hörst jetzt anders – so wie ich dich jetzt anders wahrnehme. Meine Seele kann zu deiner jederzeit Kontakt aufnehmen, Zeit und Raum spielen dabei keine Rolle. Wir sind eins, wie nie zuvor.

Ja, manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher als so schnell wie möglich wieder bei dir zu sein und alles andere hinter mir zu lassen, keinen körperlichen Schmerz und keine Trauer mehr zu empfinden.
Noch mehr aber wünsche ich mir hier meinen Weg weiterzugehen, meine “Aufgaben” richtig und gut zu erledigen und meinen “Auftrag” zu erfüllen. Denn so wie deine Seele wusste, wann dein Menschenleben endet und was du hier auf der Erde zu tun hattest, so hat auch meine ihre eigenen Aufgaben mitgebracht, ihre eigenen Erfahrungen und Lerneinheiten. Und die gilt es zu erledigen und ich weiß, ich bin noch nicht fertig.
Ebenso wie ich weiß, dass es für diese Aufgabe (von der ich keine Ahnung hab, was das sein könnte) ohne dich an meiner Seite schaffen muss, sonst wär sie nicht “richtig” erledigt. Ich würde mich wie immer viel zu sehr auf dich verlassen und dir den schwierigen Part überlassen. Jetzt MUSS ich es alleine machen. Und ich werde mein Bestes geben, denn ich bin überzeugt, dass du mir von dort, wo du jetzt bist, trotzdem hilfst und mich nicht allein lässt. Dass du meinen Weg bewachst und mich beschützt, auch wenn ich es manchmal nicht wahrnehme, wenn ich zu sehr in mein Menschsein verstrickt bin mit all den Gefühlen, Emotionen und Gedanken.

Nachmittag

Mittagspause, essen machen, Kinder knuddeln, Post durchschauen, draufkommen, dass eine erwartete Antwort vielleicht auf deinem PC zu finden ist, weil Gerhard alle Unterlagen von dort weggesendet hatte. Bingo – alles da. Da ich schon mal dort sitze, suche ich deine Accounts und Abos raus und fange an zu deaktivieren, die Kreditkarte rauszulöschen und Newsletter abzubestellen. Völlig fokussiert, so dass ich fast den Nachmittagsarbeitsbeginn verpasse. Immer noch ist deine “Anwesenheit” so spürbar für mich, du führst nicht nur meine Hand, sondern auch meine Gedanken – für heute hast du das Ruder übernommen. Und ich überlasse es dir liebend gerne, es ist ein vertrautes Gefühl. Und ein viel besseres als heute morgen, wo ich nur schwarz gesehen habe und im (Selbst)Mitleid versunken bin. Ja, darf auch mal sein, solange ich wieder rausfinde, ich weiß. Lieber aber arbeite ich mit dir zusammen und krieg was erledigt, das macht weit mehr Spaß.

Im Geschäft ist mal wieder kaum was los. Ich schaff zwar immer noch den angepeilten Tagesumsatz, irgendwer kommt immer und reißt den Tag raus, aber wegen 3-4 Kunden sieben Stunden hier rumsitzen ist ziemlich öde. Ich höre, wie du schmunzelnd sagt: “Naa? Schon wieder die Lust an deinem neuen Spielzeug verloren? Das ging ja schnell. Nur diesmal kannst du nicht so einfach alles hinwerfen wie früher. Also los, lass dir was einfallen, du hast doch immer so gute Ideen.”

Es ist als ob wir telefonieren würden, wie früher, wenn du mindestens einmal am Tag aus der Arbeit angerufen hast.
“Wie gehts dir? Was gibts Neues? Wie laufen die Geschäfte?”

Ich jammere ein bisschen rum, langweile mich, freu mich über deinen Anruf.

Höre dich wieder: “Ist ja eh schon bald Abend, bald geschafft. Dann machen wir es uns gemütlich. Was gibts heute zum Abendessen? Soll ich noch was einkaufen?…..Lieb dich…”

Ich hab deine Stimme im Ohr, auch wenn ich sie seit Wochen nicht mehr gehört hab. Videos anschauen kann ich zur Zeit gar nicht, um sie wieder in “echt” zu hören, das tut zu sehr weh. Also muss ich mit der Erinnerung leben, aber das ist ok.

Ich hör dich nicht mehr – du siehst mich nicht mehr.
Ich seh dich nicht mehr – du spürst mich nicht mehr.
Ich spür dich nicht mehr – und doch ist es genau umgekehrt: Ich höre, sehe, spüre dich – und du siehst alles, hörst alles, weißt alles.

Und so weißt du auch, das sich dich für immer und ewig lieben werde, so wie ich ewig deine Liebe spüren werde…

deine Prinzessin



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