111 Tage – Wellenhopsen

Weihnachten bis Silvester war anstrengend, aber machbar. Wobei Weihnachten weniger schlimm war als befürchtet – dafür erwischte mich der Silvester kalt von hinten. Dieses Gefühl, NOCHMAL Abschied nehmen zu müssen, Richi quasi zurückzulassen in 2020, war furchtbar.

Zum Glück tauchten aus dem Nichts Menschen auf, die mit mir plaudern (und Sekt trinken) wollten. Nach der 3. Flasche wars lustiger. Statt Feuerwerk gabs Luftballons, die Lucy und ich um Mitternacht losließen, statt Campingplatzparty gabs Treffen vorm Haus mit anschließender Gulaschsuppe bei Andrea.

2021

Danach ging gar nix mehr, die erste Woche im neuen Jahr war fast schlimmer als die ersten Wochen nach Richis Tod. Alles war sinnlos, die Motivation musste ich offenbar auch im alten Jahr vergessen haben.

Für alle begann „endlich“ ein neues Jahr, nachdem 2020 so blöd war. Nach vorne schauen, auf Neues freuen, Vorsätze fassen, positiv sein.

Für mich begann ein Jahr, dass Richi nicht mehr erlebt hatte, keine gemeinsamen Erinnerungen mehr, alles was ich jetzt tue, mache ich allein. Ich wollte das alles nicht – also tat ich gar nichts mehr. Außer weinen. Egal, wegen was. Es brauchte nur jemand eine Nachricht schreiben oder irgendwo harmlos kommentieren.

Ich wollte aber auch niemanden sehen, mit niemandem reden. Ich wollte meine Ruhe – und hasste die Stille. Ich ging mir selbst auf die Nerven.

Ich hatte keine Arbeit, keine Beschäftigung, keine Perspektive, kein Ziel. Und keine Lust mir eine(s) zu suchen.

6. Jänner

Zum ersten Mal seit Tagen ist in meinem Kopf nicht nur Matsch und Traurigkeit. Ein Gespräch lässt mich erkennen, was fehlt. In früheren Jahren war der Jänner für mich imner vollgestopft mit Motivation und Neugierde auf Neues. Eine neue Arbeit, ein (Online)Kurs zu irgendeinem Thema, das mich interessierte, ein Abo… Voriges Jahr begann ich eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin (nur für mich um besser zu kochen – hat nicht ganz geklappt), einen Italienischkurs auf Babbel, meldete mich zu einer Reiki-Ausbildung an (den 1. Grad hab ich schon) und bereitete mein Geschäft im Keller vor. Und jetzt? NIX! Mich interessiert kein Thema, das Geschäft ist zu, was Neues lernen… Wozu? Wem bringt das was? Wie jedes Jahr werden mir grad Unmengen an Onlineausbildungen zugespielt – durchaus interessante. Und zum ersten Mal müsste ich sie nicht in Raten zahlen. Ich könnte sogar welche wählen, wo ich vor Ort sein müsste – wär alles kein Problem. Nur fehlt diesmal völlig die Lust.

Mit dem Abschluss der Rauhnächte hab ich mein Visionsboard erstellt – ziemlich simpel heuer. Was hatte ich mir die letzten Jahre nicht alles visualisiert und gewünscht! Meist wollte ich mehr als in ein Jahr reinpasst. Was sollte ich mir jetzt schon wünschen? Oder planen?

7. Jänner

Von „besser“ bin ich immer noch weit entfernt, aber zumindest denk ich nach. Was würde mir Spaß machen? Was könnte mich motivieren? Was wollte ich immer schon mal machen?

Da mir immer mehr Bereiche ins Bewusstsein kommen, die ich immer mit Richi gemeinsam gemacht habe (Serien gucken zum Beispiel – wie soll man sich die 5. Staffel anschauen, wenn man niemanden mehr hat um danach drüber zu reden?). Teilweise möchte ich sie genau deshalb weitermachen. Aber ich brauch auch etwas nur für mich, etwas Neues, das keinerlei Verbindung und Bezug zu Richi hat. Wo keine Vergleiche möglich sind. Einen neuen Weg, der noch keine riesigen Fußstapfen aufweist, in die ich dauernd stolpere.

Noch fällt mir nichts ein, obwohl ich eine leise Ahnung kriege – da mir das Thema 3x am Tag „übern Weg läuft“.

Ich beginne Dinge zu tun, weil ich sie tun mag und nicht, weil wir das immer so gemacht haben. Auch nicht „jetzt erst recht“, sondern einfach so, wie ich es aktuell als gut empfinde. Ich dreh den Fernseher nicht mehr auf, wenn nix läuft – nur damit wer redet. Dann spielt halt um 10:00 noch Radiomusik. Ich kauf mir Filme auf Amazon Prime um sie mir ohne Ablenkung anzusehen, weil sie mich interessieren, nicht, um einfach nur den Abend zu überbrücken.

8. Jänner

Ganz, ganz langsam merk ich, das es wieder einfacher wird, die mittlerweile erprobten Mechanismen greifen wieder. Seit Tagen schiebe ich das nächste (dringend notwendige) Projekt vor mir her. Plötzlich erscheint mir alles zu viel, zu schwierig, zu „kann ich doch eh nicht“. Anstatt einfach mal anzufangen, find ich zig Ausreden.

Es ist aber notwendig, weil ich sonst auch nichts anderes mehr machen kann. Und das kam so:

Vor 3 Monaten war das Haus halbwegs aufgeräumt. Dann fing ich an zu renovieren und umzuräumen, packte alles erstmal in den Keller. Einfach aus dem Sichtfeld. Ich hatte einen groben Plan, wo ich was unterbringen will, welcher Raum welche Bestimmung kriegen soll. Aber erstmal die Wohnräume schön machen, der Keller hat Zeit. Und Platz. Der irgendwann weniger wurde. Werkzeug geholt, anderswo abgestellt. Weihnachtsschmuck hervorgekramt, Schachteln am Gang stehen lassen. Kasten im Erdgeschoß ausgeräumt, alles runtergestellt. Zugestellt. So, dass ich nicht mal mehr den Christbaum abräumen kann, weil ich nicht mehr an die Schachteln rankomm.

Ich wollte auch gar nicht mehr runtergehen, ein gruseliger Hindernislauf, der mir zuruft: Richi wäre ausgerastet! Das ist soviel Arbeit, da brauchst noch einen Lockdown…

Heute Nachmittag hab ich es endlich geschafft, runterzugehen. Den Abstellraum, in dem Richis Sachen gesammelt aufbewahrt werden sollen, ausgeräumt, geputzt. Nun siehts noch schlimmer aus – Erstverschlimnerung wohl. Ich fing an, die einzelnen Kisten, Schachteln und Körbe zusammenzusuchen, neu zu sortieren und beschriftet in die nun sauberen Regale zu räumen. Mit jeder Box, die ich liebevoll einräumte und beschriftete, kam die Motivation und der Spaß an der Ordnung wieder. Ich fing an mir vorzustellen, wie der Keller fertig aussehen könnte, was ich wo hinräumen möchte.

Da ich gelernt habe mich nicht gleich am ersten Tag nach einem Trauertsunami zu überfordern, war nach den ersten Kisten Schluß für den Tag, morgen gehts weiter.

9.1.

Und es ging weiter, schon am frühen Morgen räumte und kramte ich herum, brachte Sachen nach oben, holte andere hinunter. Und irgendwann zwischendurch merkte ich, ich hab nicht nur meine Motivation wiedergefunden, sondern auch ein Ziel, einen Plan und den Willen, dort hinzugelangen. Auch (oder weil?) es ziemlich langfristig ist. Ein Erlebnishaus – jeder Raum hat ein Hauptthema, ist einem Hobby, einer Beschäftigung zugeordnet. Alles was ich zu dem Thema habe, muss in diesem einen Raum sein.

Handarbeitszimmer, Büro sind klar – und ziemlich einfach einzuräumen. Im Wohnzimmer ist alles, was ich an esoterischen Büchern, Karten und Sprays besitze.

Im Keller gibt es Richis Raum – hier findet sich alles von ihm, was wir grad nicht brauchen. Und das Aktivzimmer: Fotos (plus Alben, Rahmen, Bücher), Gesellschaftsspiele, Bastelmaterial, Geschenkspapier (mit Bändern und Karten)…

Ich hab meinen Schreibtisch vom alten Büro aufgebaut, so kann man dort arbeiten und auch mal was liegenlassen.

Abends war mal wieder nix im Fernsehen, und dann hatte ich eine Idee! Nein, diesmal geb ich nicht wieder Hunderte Euros aus für irgendeinen Kurs, den ich dann eh wieder nicht fertig mach, weil mir das alleine vor sich hinlernen keinen Spaß macht. . Um knapp 100€ bestellte ich mir bei Amazon Fachliteratur und dann schaltete ich auf Youtube um und suchte nach passenden Videos zu den Themen Räuchern und Kräuter und Gartengestaltung. Denn ja – mein Plan und mein Ziel enden nicht mit der Ordnung im Haus. Ich hab eine grobe Vorstellung, was ich aus dem Garten machen möchte – auch wenn ich dazu einen Gärtner beauftragen muss. Das ist es mir wert, mich überall wohlzufühlen. Ich möchte Kräuter anpflanzen und sie später trocknen, um dann selbst Räuchermischungen herzustellen. Ich möchte lernen wofür welche Pflanzen gut sind. Was man damit machen kann.

10.1.

Mit diesen Plänen und der Vorfreude darauf, sie umzusetzen, wachte ich auch heute wieder auf. Gleich nach dem Kaffee fing ich an, alles wegzusortieren, was ich gestern aus dem Keller geholt und nur vor dem jeweiligen Raum hingestellt hatte, wurde nun eingeräumt. Dann war das Aktivzimmer nur mehr eine Frage der Zeit, bis es auch so war wie ich es mir vorstelle.

Nun war ein Zwischenschritt nötig – die bisher umgeräumten Bereiche von Kisten und Mist befreien, saugen. Fertig-Stempel draufdrücken.

Ein Nebeneffekt: ich freu mich, wenn ich für den Tag fertig bin, auch wieder aufs Handarbeiten oder lesen. Und während ich stricke, fallen mir hundert Sachen ein, die ich noch verbessern oder umgestalten kann.

Zum ersten Mal denk ich weiter als bis übermorgen, mache mir Gedanken, was ich mit meinem weiteren Leben anfangen möchte, wie es aussehen könnte, wenn ich in ein paar Jahren ganz allein in diesem Haus wohne. Und die Bilder, die sich mir zeigen, gefallen mir. Richi war Teil meines Lebens, ist es und wird es immer bleiben. Aber jetzt bin ich allein dafür verantwortlich, was ich mit dem Rest mache, den er nicht mehr mit mir geht (zumindest nicht sichtbar).

Ich bete darum, dass diese Positive-Surf-Welle möglichst lang anhält, damit ich ganz viel weiterbringe. Und dass die nächste Welle, die mich wieder umschubst, nicht allzu groß und heftig ist. Ich mag den Weg zum nächsten Ziel, er ist spannend und lehrreich, bunt und abwechslungsreich. Ich bin mir selbst genug – und das ist gut. Ich freu mich über Dinge, die gelingen und bleib hartnäckig, wenn etwas nicht gleich klappt.

Gestern hab ich bei einer Doku eine spannende Aussage gehört. Es ging um die Frage des „Warums“.

Warum so früh? Warum jetzt? Warum du? Warum passiert das uns?

Die Antwort: „Die Seele kennt keine Zeit.“

Der Seele geht es um Qualität, nicht um „möglichst lange“. Wenn unser Leben ein schöner Urlaub ist, ist er ohnehin immer zu früh vorbei, könnte immer noch ein bisschen länger dauern – selbst dann, wenn man schon super erholt ist und gar nix mehr unternimmt. Nun, dann ist Richis Urlaub vorbei und er ist wieder „daheim“. Ich bleib noch ein bisschen, bevor ich auch heimkomme. Ist ja schon schön hier.

11.1.

Jetzt bin ich schon so lange traurig und du bist imner noch tot.

Den Satz las ich kürzlich und dachte mir: ja genau, es reicht langsam, das ist ein doofes Spiel. – Ist mir dann eh selber aufgefallen, dass es erstens gar kein Spiel ist und ich zweitens bis zum Sanktnimnerleinstag trauern kann und es ändert sich trotzdem nix. Außer ich nutze die Energie und ändere selbst etwas. Mich, meine Sichtweise, meine Einstellung. Halt das, was ICH ändern kann. Anstatt über das zu jammern, was ich nicht ungeschehen machen kann.

Ja, mir ist bewusst, dass in einer Umschubs-Wellen-Phase das alles völlig egal ist und ich dann gar nix ändern will, sondern nur Vergangenes zurückhaben möchte. Aber die Surf-Wellen-Phasen werden langsam wieder bunter und lebendiger – und das find ich schön. Das muss fürs Erste genügen.