100 Tage – Silvester

(29.12.) Mein Onlinekalender sagt, dass wir morgen nach Jesolo fahren. Eine Nachricht aus einem anderen Leben, eines, an das ich mich kaum noch erinnern kann. Zu viel ist passiert seither, zu viel musste ich in ein Leben integrieren und verkraften, um das ich nicht gebeten habe. Ich kann mich nur aufs JETZT konzentrieren, Rückblicke und Vorschauen fallen mir schwer, die Kapazitäten des Hirns reichen nicht aus.

Trotzdem werde ich genau das jetzt versuchen – zurückblicken und nach vorne schauen.

Wie war Weihnachten?

Die wohl brennendste Frage aller, die mir nahestehen. Wie ist es, Weihnachten ohne den geliebten Partner zu „feiern“ oder auch nur den Tag zu überleben. Nun, ich halt nichts von Panikmache und selbsterfüllenden Prophezeiungen – wenn ich mich reinsteigere in „ach, wie wird das fruchtbar werden, ich hab ja so Angst davor“ – dann wird genau das auch passieren. Das Universum erfüllt alle „Wünsche“ prompt, besonders, wenn sie mit solcher Inbrunst ausgesprochen werden. Und dem Universum ist das egal, ob das ein guter oder blöder Wunsch ist. Amazon ist es ja auch wurscht, welchen Blödsinn man bestellt. 😉

So, ich war also mal wieder in der Lage mir vorab schon Gedanken zu machen, was ich möchte und was nicht. Und so kann ich sagen: Ja, die Feiertage waren „schön“. Ich hab erstens alles verdrängt, was mich belasten könnte und zweitens alle sentimentalen Momente gar nicht erst entstehen zu lassen. Statt „Stille Nacht“ gabs Weihnachtslieder von Richis Musikbox, statt Ente gabs Schnitzel, statt Full House waren wir nur zu zweit. Jeden Tag kam ein Kind zu Besuch und feierte bei uns Weihnachten – mit supertollen Geschenken und netten Gesprächen.

Das ist machbar und schaffbar – kostet aber immense Kraft. Das merkte ich dann am Montag, als alles vorbei war – ich knickte ein. Jede Nachricht brachte mich zum Weinen, egal wie harmlos sie war. Ungefiltet tauchten plötzlich aus dem Nichts „Vor-Erinnerungen“ auf – ich weiß nicht, wie man die sonst nennen soll. Dinge, die NIEMALS mehr passieren werden, die wir nicht mehr zusammen machen können.

Aber ja, auch Weihnachten kann man überleben, ohne als heulendes Wrack in einer Ecke zu kauern und man kann es sich sogar nett machen.

Jahresrückblick

Alle freuen sich, dass 2020 endlich vorbei ist, weil es sooo „furchtbar“ war – ich nicht. Nicht mal da kann ich mich der Masse anschließen.

In meinem alten Leben war vieles positiv: Ich habe im Jänner meinen Keller-Shop eröffnet und damit einen großen Schritt Richtung Lebenstraum gemacht. Ich hab von März bis Juni Richi mehr daheim gehabt als die letzten 21 Jahre zuvor. Wir waren trotz Pandemie 3x auf Urlaub und haben die Zeit dort sehr bewusst und dankbar genossen. Ich hab mir im September meinen Lebenstraum erfüllt mit meinem Geschäft.

In meinem neuen Leben ist alles anders, trotzdem hab ich so einiges geschafft, von dem ich nicht mal ahnte, das ich es kann. Ich habe meinen Mann auf seinem letzten Weg begleitet, seine Abschiedsfeier organisiert, das halbe Haus renoviert, gelernt mit dem WoMo zu fahren, den 22. Hochzeitstag, meinen 51. Geburtstag und Weihnachten gemeistert und nebenbei führe ich immer noch mein Geschäft, ohne ins Minus zu rutschen. Trotz Lockdown. Ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, die bisher nur in Richis Leben existierten, habe erfahren, wie eng und fürsorglich meine Familie ist und wie stark meine Mädels sind. Ich habe erkannt, wie stark ich selbst bin und was meine ureigensten Eigenschaften sind – die verändern sich nämlich nicht, die verstärken sich höchstens (leider auch die Negativen *grins*).

Ich habe viele Erkenntnisse gewonnen und Einstellungen geändert:

  • Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod oder dem Sterben. (warum auch, Richi wartet auf der anderen Seite auf mich)
  • Ich empfinde gemeinsam verbrachte Zeit und Liebe wesentlich wertvoller als Geld und Geschenke. (seit ich mehr Geld habe als je zuvor ist es es mir überhaupt sehr unwichtig geworden)
  • Ich weiß was ich alles schaffen kann und lass mir von niemandem mehr dreinreden. (obwohl ich immer noch ein bissi Angst davor hab, überheblich rüberzukommen)
  • Ich weiß, dass es ein Leben nach dem Erdenleben gibt und sie alle da drüben immer mit uns verbunden sind. (und die passen ganz genau auf, was wir hier so tun)
  • Ich mache Dinge, die mir einfallen und die ich gerne machen möchte, so rasch als möglich – aufschieben auf „später“ vermeide ich, wann immer es geht. (Du weißt nie, ob es ein später gibt.)
  • Gleichzeitig ist es mir aber auch nicht mehr so wichtig, alles zu machen oder zu lernen, was mir so zuflattert – wenn es vorbei ist, ist nichts mehr davon von Bedeutung.
  • Ich weiß, dass ich Dinge, die ich anfange, fertigmachen kann – ja, fertig machen MUSS, das Ordnung und Sortieren mir Struktur und ein Gerüst geben, an dem ich mich entlang hangle.
  • Ich kann gelassener auf Unvorhergesehenes reagieren und akzeptieren, was ich nicht ändern kann, ohne gleich hysterisch zu werden.
  • Ich weiß, dass jeder anders mit Trauer umgeht und werde mir nie wieder anmaßen über andere zu urteilen, egal was sie tun oder nicht tun. (obwohl ich da ab und zu noch üben muss)
  • Ich weiß, dass es einen Schmerz gibt, der unvorstellbar und nicht zu beschreiben ist – und den so ziemlich jeder mindestens einmal durchleben muss, ohne sich in irgendeiner Form darauf vorbereiten kann. (aber man überlebt ihn, das ist ein kleiner Trost)
  • Ich spüre und fühle mehr als zu „denken“ und höre viel mehr auf meine Intuition, auch wenn ich manchmal nicht genau weiß, wo es hinführen soll. (bisher hat es aber immer super gepasst, wenn ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen habe)
  • Ich weiß, dass ich mich auf meine Familie und mein Dreamteam zu 100 Prozent verlassen kann. (ein sehr schönes Gefühl)
  • Wenn gemeinsame Erinnerungen (Vergangenheit) und gemeinsame Pläne und Träume (Zukunft) plötzlich wegbrechen, bleibt einem nur das JETZT, jeden einzelnen Atemzug lang. (Auch dann, wenn auch im Jetzt nichts mehr so ist, wie es war.)
  • Ich weiß, dass ich LEBEN will und alles dafür tun werde, das so schnell als möglich und so gut als machbar zu schaffen. (Richi begleitet mich dabei in einer anderen Dimension)
  • Ich kann sehr gut alleine sein, fühl mich weder einsam noch ängstlich. Ich mag es selbstbestimmt zu tun, worauf ich grad Lust hab.

Vorschau auf 2021

Kann man Zukunftspläne schmieden, wenn man grad vor den Scherben seines Lebens steht? Ja. Nein.

Also nicht in dem Sinn wie früher, wo man sich für das neue Jahr vorgenommen hat, beruflich voranzukommen, eine Sprache zu lernen, Urlaub zu machen, Sport machen… Das sind Dinge, die mich wenig bis gar nicht interessieren. Wenns sein soll, dann wird es passieren. Wenn ich etwas lernen soll, werden mich die Informationen finden. Wenn ein Urlaub richtig erscheint, werde ich auch den hinkriegen. Wenn nicht, dann halt nicht. Ich werd mich zu beschäftigen wissen. Was in 6 Monaten oder in 1 Jahr ist, ist mir ziemlich egal, darauf hab ich jetzt wenig Einfluß.

Und trotzdem hab ich Pläne und Ziele, sie sind nur reduzierter und „erdiger“ als früher. Ich merke das auch jetzt während der Rauhnächte, normalerweise verlier ich mich da in Träumen und Höhenflügen, was alles möglich sein darf im neuen Jahr. Diesmal ist alles sehr ruhig, zurückgezogen, still. An erster Stelle steht für mich (immer noch) mein Haus und meinen Garten zu einer kleinen Insel zu machen, einem Rückzugsort für mich, wo ich jeden Winkel und jedes Ding darin kenne. Das klingt vielleicht komisch, wenn man 26 Jahre in einem Haus wohnt. Aber es gibt hier so viele Dinge, die nicht mir „gehören“, von denen ich keine Ahnung hab, wofür man sie überhaupt braucht, oder einfach Kram, den nur keiner weggeworfen hat. Ich arbeite mich langsam vor – Zimmer für Zimmer, Kasten für Kasten, Lade für Lade. Renovieren, umgestalten, aussortieren, sinnvolle Ordnung schaffen.

Früher wäre ich schon von der schieren Menge an Arbeit zurückgeschreckt und hätte gar nicht begonnen (wo fang i an, wo hör i auf?), jetzt ist das Ziel zwar als Wegweiser da, aber die Arbeit an sich viel wichtiger als das Endergebnis. Ob ich heute oder morgen oder im August fertig bin, ist irrelevant. Sollte es bei einer Arbeit kein „später“ geben – na und? Dann ist es auch egal ob ich fertig geworden bin oder nicht.

Ich wünsche mir mich wohlzufühlen, egal, wo im Haus ich mich gerade befinde – alles soll harmonisch und aufeinander abgestimmt und gemütlich sein. Ich möchte jeden Tag bewusst leben, gute Momente erkennen und mich darüber freuen. Ich möchte neugierig bleiben, lernen, entdecken und wachsen. Ich werde Richi und unsere Liebe weiterleben lassen, indem ich von und über ihn rede, an ihn denke und Dinge tue, die ihm gefallen würden. Ich werde auf mich und meine Bedürfnisse achten, damit ich auch bald wieder auf die Bedürfnisse anderer eingehen kann.

Ende der Wochenberichte

Ich werde nicht mehr regelmäßig schreiben, außer es gibt etwas Erzählenswertes. Mein Leben hat sich so weit eingependelt, dass es nur mehr Wiederholungen wären. Mal bin ich traurig, mal bin ich motiviert, mal krieg ich was fertig, mal mach ich mich selbst fertig – daran wird sich so schnell nichts ändern. In unregelmäßigen Abständen werde ich ein Update schreiben, auch weil ich selbst später einmal nachlesen möchte. Am 100. Tag nach Richis Tod, am letzten Tag des Jahres nehme ich mein Leben wieder selbst in die Hand.

Was Richi euch noch sagen möchte

Mädels, ihr habt meine Prinzessin wunderbar begleitet, dafür möchte ich euch danken. Ich wusste, ich kann mich auf euch verlassen. Es tut mir auch leid, dass ich jetzt schon auf die andere Seite wechseln musste, aber so war es vereinbart. Meine Aufgabe war erledigt, aber darüber erzähl ich euch mehr, wenn wir uns wiedersehen.

Ich weiß jetzt, dass ich Bettina alles beigebracht hat, was sie braucht, da muss ich mir keine Sorgen machen. Sie packt das und wenn mal was nicht geht, helf ich ihr eh. Oder ihr, wenns was ist, was ich von hier aus nicht machen kann.

Bis dahin passt auf euch auf, lebt, liebt, lacht und nehmt nichts selbstverständlich. Lebt bewusst, seid dankbar für das, was ihr habt.

Ich find meine „Paaansion“ hier ganz cool, ich hab alle Zeit der Welt, weil Zeit keine Bedeutung mehr hat. Sogar mein Biorythmus ist hier sehr stabil. 😉 Wir „plärren hier zu den oiden Hoddern“ und es geht mir gut. Hier gibt es keinen Schmerz, keine Trauer, keine Einschränkungen. Ich vermisse auch nichts, denn ich sehe euch ja immer – sobald ihr nur an mich denkt, bin ich in eurer Nähe.

Und mit diesem Song, den ich heute noch meiner Prinzessin „geschickt“ hab, entlass ich euch ins nächste Jahr. Papa was a rolling stone… möge die Macht mit euch sein.

Speziell dieser Teil ist es, der für sie wichtig und wertvoll ist:

Es tut noch weh
Wieder neuen Platz zu schaffen
Mit gutem Gefühl
Etwas Neues zuzulassen
In diesem Augenblick
Bist du mir wieder nah
Wie an jedem so geliebten
Vergangenen Tag
Es ist mein Wunsch
Wieder Träume zu erlauben
Ohne Reue nach vorn
In eine Zukunft zu schauen
Ich sehe einen Sinn seitdem du nicht mehr bist
Denn du hast mir gezeigt
Wie wertvoll mein Leben ist

(LyricFind)