Nein, nicht heute…(Tag 27)

Ich wache auf und empfinde sowas wie ein “Glücksgefühl”, irgendwie ruhig, friedlich, mit mir im Reinen. Warum, kann ich nicht sagen – aber das weiß ich auch nicht, wenn ich traurig aufwache.

Lucy steht erstmals ohne Murren auf, immerhin steht “brav zur Schule gehen” gegen “am Wochenende das neue Zimmer aufbauen” als Deal. Sie vergisst ihre Maske und versäumt somit den Bus – na und, dann bring ich sie halt schnell hin. Kein Drama, kein “Scheiß Tag”, nicht heute.

Die Stimmungen wechseln schneller als das Wetter, gestern völlig am Boden zerstört, heute “jo eh, alles gut”. Der tägliche Blick aufs Konto tut sein übriges, Lucy hat am Freitag ihre vorläufige Vorschreibung für die Waisenpension erhalten – ich aber habe heute Früh mein Geld für September bekommen – und das sieht nicht mal so schlecht aus. Warten wir den Brief noch ab mit der Vorschreibung, aber ich glaube, wir sind “safe”. Das ist beruhigend. Wieder mal hat er für uns gesorgt, passt auf, dass es uns an nichts fehlt.

Richis oberstes Ziel war es seit Jahren, endlich in “Paaansion” gehen zu dürfen – nun hat er seine 3 Mädels gleichzeitig in dieselbe geschickt. Schade, er hätte sich noch mehr darüber gefreut als wir. Aber heute freu ich mich, das wir genug Geld kriegen werden.

Ich schaffe ein ganz „normalen“ Morgen, wo ich vor der Arbeit die wichtigsten Hausarbeiten erledige. So wie früher.

Der Tag verläuft weiterhin „normal“, es geht mir gut. Bis ich fürs Mittagessen ein Gewürz aus dem Womo brauche, das in der Küche fehlt. Ich denk mir gar nix dabei, kein Widerwillen wie bei der SCS, kein ungutes Gefühl.

Zack! Zum ersten Mal bin ich im Womo, rieche den vertrauten Duft, sehe uns im Urlaub gemütlich drin rumgammeln, denke an wunderbare Gegenden, die wir gemeinsam erkundet hatten. Die Welle schwappt unvorbereitet über mich hinweg. Ich hol das Gewürz und flüchte.

Nicht heute, der Tag soll gut bleiben. Bitte! Einen Tag ohne Trauernebel, ich brauch den! Durchatmen, Kraft tanken, Normalität. Nur für einen Tag.

Das Mittagessen ist an Normalität kaum noch zu überbieten, selbst gekocht, pünktlich fertig. Gyros mit Reis, Salat, Knoblauchbrot und Rahmsoße. Wir essen, plaudern, Lucy ist ganz gut drauf.

Von hinten aus irgendwelchen Gehirnwindungen schleicht sich die Frage ein: „Was hätte Richi dazu gesagt? So vieles, was er nicht mehr miterlebt, was er verpasst im Leben seiner Tochter, in unserem Leben…“

Nein, nicht heute. Kein Trauern, kein Bedauern. Nur heute, nur diesen einen Tag. Bitte.

Das Unfassbare wird fassbarer, das Unglaubliche wirklicher, das Nicht-Verstehen-Können weicht Gewissheit, das Wissen um die Tatsache bettet sich immer mehr ein. Die Männchen im Kopf haben Schubladen gefunden, wo sie all die Informationen ablegen können. Die Dauerschleife „das kann doch gar nicht sein“ wird leiser, weicht immer öfter einem „das ist so“.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, dass sich jeder Gehebenheit anpasst. Wirklich jeder, egal wie furchtbar, traurig, belastend oder schmerzhaft sie ist. Ziel ist immer der „Normalzustand“, Alltag, Gewohntes, Vertrautes. Fehlt dabei etwas, wird das kompensiert, verdrängt, ersetzt, ausgeblendet oder als „neuer Alltag“ deklariert, bis es wieder zur Gewohnheit wird.

So weit bin ich noch lange nicht, hier wird nix verdrängt oder gar ersetzt. Aber ein Tag Normalität – ja, das tut gut. Heute darf das sein, bisschen probieren, wie sich das anfühlt.

Ist ein bisschen so wie wenn man mit 12 heimlich Mamas Stöckelschuhe probiert – tut weh, macht Spaß. Sie sind zu groß, man muss noch hineinwachsen.

Auch der Nachmittag verläuft gut, Kunden kommen und shoppen fleißig Wolle. Ich plaudere, kümmer mich weiter um den Lagerbestand, komm drauf, dass das System nicht runterzählt, ärgere mich kurz und knackig – alles ganz normal. Bald ist Feierabend und vielleicht schaff ich ja heute einen Kuschelabend mit Tee und Wolle. Bisher hats nicht geklappt, aber ich denke, heute ist ein guter Tag dafür. Ein normaler Tag, einer fast wie früher. Einer der ist, wie er ist.