Und nun? (Tag 46)
Rundherum beginnen die Lichterketten zu blinken und Menschen nach Weihnachtsgeschenken zu suchen – meine Lieblingszeit seit 50 Jahren. Kataloge mit Deko flattern ins Haus, erste Wunschlisten werden über Whatsapp und Amazon ausgetauscht. Familienfeste stehen am Programm. Tradition. Vertraute Gemeinsamkeit. Und nun? Was mache ich? Wie geh ich damit um?
Noch dazu kommen 4 Geburtstage auf mich zu, inklusive meinem eigenen. Auch hier Wunschlisten, Besorgungen machen, Freude schenken. Und nun?
Silvester – erst in den letzten Jahren kein spannungsgeladenes Thema mehr, wir sind geflüchtet von allem Trubel. Ruhiger Campingplatz, gutes Essen, nette Feier. Und nun?
Wie wird es sein? Was möchte ICH? Wie gehen die anderen damit um? Familie, Freunde, die Kinder?
Zum ersten Mal seit 46 Tagen denke ich weiter als an die nächsten 24 Stunden. Müsste ich noch nicht, nein, es ist ja noch genug Zeit. Doch sind mir diese Dinge zu emotional und wichtig, als das ich mich davon überrollen lassen möchte. Denn auch wenn ich jetzt verdränge – all diese Feste finden trotzdem statt. Dann lieber „vorbereitet“ sein.
Was möchte ich? Was wünsch ich mir? Ruhe? Betriebsamkeit? Weiterführen von Traditionen? Oder lieber alles neu, alles anders? Oder doch alles ignorieren und alle Feste auslassen heuer?
Ich weiß es nicht, kann es überhaupt nicht einschätzen, kann mir weder das eine noch das andere vorstellen. Und dann fällt mir ein: „Moment, das kenn ich doch! Hab ich das in den letzten Wochen nicht zig Male erklärt? Man kann sich den Schmerz und die Trauer nicht vorstellen, wenn man sie nicht selbst erlebt,; denn was das Gehirn nicht kennt, kann es nicht einordnen!“ Wie soll ich also herausfinden, was ich will und wie es sein wird, wenn ich vor einer Zeit stehe, die ich noch nie erlebt habe?
Diese Fragen kann ich mir in ein oder zwei Jahren stellen, wenn ich „Vergleichsmaterial“ habe. Wenn ich sagen kann: „Nein, so und so mach ich das nicht mehr. Aber dies und das war schön.“
Ich stehe also wieder vor der Tür zu einer völlig unbekannten Landschaft und kann nur, wie bisher, einen Schritt nach dem anderen gehen, einen Tag nach dem anderen leben und darauf achten, wie ich mich dabei fühle.
Ja, das wird für mein Umfeld schwierig, wenn ich erst am Tag vor meinem Geburtstag weiß, ob ich ihn feiern möchte und ob ich mir etwas wünsche. Für mich auch. 😉
Wenn ich an einem Tag zig Lichterketten aufhänge, weil Richi diese Zeit so geliebt hat, wo alles blinkte und funkelte – und am nächsten Tag kein Wort von Weihnachten hören will.
Wenn ich nicht fähig bin ein Geschenk zu besorgen, weil in meinem Kopf einfach kein Platz ist für „Alltägliches“. Nein, nicht das Geschenk und das Geburtstagskind ist alltäglich, sondern die Tatsache, dass man da ein Geschenk braucht. Solche Selbstverständlichkeiten sind zur Zeit immer noch ausradiert in meinem Kopf. Meist fallen sie mir kurz vorher noch ein, aber nicht immer.
Wenn man auf eine Hochzeit eingeladen ist, braucht man ein Geschenk? Ach echt? Und was? Der Kopf ist leer, ideenlos.
Wenn liebe Menschen helfen, bedankt man sich anschließend (und wenn sie mit vollem Körpereinsatz arbeiten, sorgt man für Verpflegung). Ach echt? Und wie und womit? Völlige Leere im Kopf.
Steht ein Geburtstag vor der Tür, koordiniert man seine Ideen mit anderen Gratulanten, besorgt Geschenke, überlegt sich Überraschungen, freut sich auf die Freude des Geburtstagskindes. Ach echt? Und wie geht das? Ich finde die Erfahrungswerte nicht mehr in meinem Kopf, diese Schubladen müssen verschüttet sein unter den Trümmern.
Dabei ist es nicht so, dass ich das alles nicht möchte oder von vornherein ablehne. Ich kann es auch – allerdings antizyklisch. Ich entdecke in einem Katalog oder im Internet etwas, worüber sich jemand freuen könnte – und kaufe es. Ich kann es auch verschenken und mich mitfreuen – nur halt nicht zum jeweiligen Geburtstag oder zu Weihnachten oder einem anderen Datum, das festgesetzt ist. Und nun? Etabliere ich eine neue Tradition, in der ich alle Lieben die komplette Adventzeit hindurch beschenke, wann immer mir etwas einfällt und lass dafür Weihnachten ausfallen?
Dazu kommt, das mir von allen Seiten versichert wird, was für eine schwierige Zeit das doch sein wird. Wird es das wirklich? Was soll passieren? Dass ich 24 Tage täglich weine und trauere? Das tu ich jetzt auch. Schlimmer kanns also nicht werden. Mehr Schmerz geht eh nicht. Dass ich heulend den Christbaum schmücke und am 24. apathisch darunter sitze? Joa, kann passieren – aber was ist so schlimm daran? Ich versaue damit den anderen das Weihnachtsfest. Ach ja? Als ob irgendwer in meinem Umfeld sich auf ein lustiges Weihnachtsfest freuen würde. Ich bin ja nicht die Einzige, die trauert, der etwas fehlt.
Ich glaube fast, solche traditionsgeschwängerten Feste sind umso schwieriger zu verkraften, je länger der Todestag zurückliegt – weil man mit der Zeit langsam aus seinem Loch krabbelt und dann plötzlich ziemlich weit wieder runterfällt. Ich bin eh noch sehr weit unten, kann also nicht so weit fallen. Klar wird es weh tun, aber es ist halt ein Unterschied ob ich schon Wochen und Monate ziemlich stabil bin oder noch in der Phase, wo ich täglich damit rechne, zu fallen. Ich kann mich aber auch irren…
Vielleicht ertrag ich es nicht, dass alle anderen im Kreis ihrer kompletten Familie feiern können, sich gegenseitig beschenken und Traditionen weiterleben. Möglich, aber erstens verteufle ich niemanden für sein intaktes Leben (das macht meines auch nicht wieder heil) noch bin ich bei diesen Feiern live dabei, ich seh es also eh nicht. Ich latsch ja jetzt auch nicht durch die Gegend und hasse alle Ehepaare. Außerdem hab auch ich nach wie vor einen FamilienKREIS – er ist nur etwas kleiner und unförmiger geworden, weil einer nicht mehr den Kreis mitbildet, sondern mittendrin steht. Früher war Richi Teil des Kreises, heute bilden wir den Kreis um ihn herum.
Ich bin im Nachhinein Richi sehr dankbar, dass wir uns selten zu solchen Festen etwas geschenkt haben, sondern immer dann, wenn es uns eingefallen ist (und Geld da war). Ich hab mein Geschenk für den Fünfziger schon im Februar gekriegt, nicht nur einmal im März oder April ein verspätetes Weihnachtsgeschenk oder einfach zwischendurch Blumen, weil ich „schon lang keine mehr gekriegt habe“. Zum Geburtstag oder zu Weihnachten standen wir oft mit leeren Händen da – es wird also nicht so tragisch sein, wenn sein Geschenk fehlt.
Was fehlen wird, ist die hektische Betriebsamkeit am 24.12. nachmittags, wenn er plötzlich eine Weihnachtskarte braucht, um zumindest ein Briefchen zu schreiben. Seine neugierigen Fragen, wenn er all die Geschenke betrachtet und herauszufinden versucht, ob nicht doch eins für ihn dabei ist. „Unser“ Weihnachtsnachmittsg, wenn wir gemütlich im Bett liegen und „War is over“ hören. Actionfilme am 23. abends, während er Zucki einwickelt und ich den Baum schmücke. Sein geschäftiges Treiben in der Küche, während die Kinder Geschenke auspacken und alle immer warten müssen, bis er endlich Zeit hat, seine auszupacken.
Wie wird es also sein? Ich weiß es nicht. Wenn mir am 15.11. danach ist, werde ich wie jedes Jahr das Haus schmücken, wenn nicht, werden weiterhin nur seine Kerzerl brennen.
Wenn mir am 27.11. danach ist werde ich frei haben (weil Freitag) und meinen Tag zelebrieren, wenn nicht, wird es einfach ein normaler Arbeitstag.
Wenn mir am 23.12. danach ist, werde ich den Baum schmücken und ein traditionelles Fest vorbereiten, wenn nicht, werde ich den Baum am 24. erst aufstellen und darauf hoffen, dass der Tag schnell vorbeigeht.
Wenn mir danach ist, werde ich mit Lucy am 31.12. nach Bad Waltersdorf fahren, wenn nicht werden wir uns zu Hause einigeln.
Oder etwas ganz anderes machen. Ich werde es wissen, wenn es soweit ist. Ich kann meine Familie, Kinder und Freunde nur um eins bitten: erwartet euch nichts, bleibt aber in Bereitschaft., falls ich an einem der Tage nicht allein sein möchte. Vielleicht kommt ja doch der „große Zusammenbruch“, auf den ich immer noch warte. Vielleicht hatte ich den aber eh schon und habs gar nicht bemerkt, weil ich ihn mir viel spektakulärer vorgestellt hatte. Vielleicht stell ich mir diese kommenden Feste und Tage auch viel spektakulärer vor, als sie in Wirklichkeit sind, einfach weil sie in der Erinnerung so emotionsüberbordet sind. Und vielleicht (re)agiere ich ohnehin die ganze Zeit nicht so wie man es allgemein üblich erwartet und mach auch an diesen Tagen alles anders. Vielleicht überschätze ich mich aber auch nur selbst und pass eh in irgendeine Trauerschublade.
Der Tag
Die Hochphase scheint vorbei, was morgens auf der Liste noch als machbar schien, baut sich wieder zu einem unüberwindlichen Berg auf. Die Trauer legt sich wie ein Tuch um mich, das ich nicht einfach abschütteln kann. Es klebt fest an mir, hüllt mich ein. Gleichzeitig einengend und vertraut tröstlich. Die Tränen sitzen im Hals fest, fließen aber nicht. Es brodelt knapp unter der Oberfläche, bricht aber (noch) nicht aus. Das Hirn ist wie leergefegt, kein klarer Gedanke ist greifbat. Keine noch so einfache Aufgabe durchführbar. Ich liege auf der Couch, mir ist kalt, obwohl doch die Sonne hereinscheint. Ich bin müde, obwohl ich gut geschlafen hab. Ich bin hungrig, hab aber keinen Appetit. Der Körper sendet Signale, mit denen ich nichts anfangen kann – in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Was davon ist wichtig? Alles. Nichts. Soll ich mich zwingen, irgendetwas zu tun um in Bewegung zu kommen? Soll ich einfach liegenbleiben, eingewickelt in eine Decke und die Augen schließen? Nichts erscheint mir richtig, nichts falsch.
Was möchte ich? – Nichts. Alles. Ich will Richi und mein Leben zurück!
Wer kann mir helfen? – Niemand. Alle. Einer. Richi!
Was kann ich tun? – Nichts. Aushalten. Abwarten. Richi suchen, seinen Rat holen.
Was nun? Ich raffe mich auf, erledige die PC-Arbeiten, verschick Dokumente, fülle zum xten Mal Formulare aus und beschließe dann, das mir Gartenarbeit gut tun könnte. Ich tobe mich an der Hecke aus, verfluche die Heckenschere und komm völlig außer Atem, weil ich Bewegung gar nicht mehr gewohnt bin. Aber zumindest spür ich mich wieder, der Kloß im Hals rutscht wieder ein Stückchen runter – Ablenkung.
Ich hol die Planen zum Abdecken der Gartenmöbel aus dem Keller und finde 2 Schachteln mit neuen Arbeitsschuhen – zack, wieder so eine unvermutete G‘nackwatschn. Das Abdecken ist nicht schwer, funktioniert auch allein ganz gut – trotzdem fehlt Richi grad soo sehr. Das war die letzte Winterarbeit, die wir imner gemeinsam gemacht haben, bevor wir unser Häuschen drinnen in eine Kuschelhöhle verwandelt haben. Jetzt mach ich sie allein und find alles blöd. Garten, Winter, Weihnachten – alles doof. Wochenende doof. Allein sein doof. Stark sein doof.
Ich will verdammt nochmal nicht in diesem Haus alleine sitzen und warten, dass die Zeit vergeht. Ich will es nicht schön machen, es kann nie wieder schön sein. Ich will nicht in jeder Ecke von einem Richi-Relikt überrascht werden – und suche gleichzeitig nach jedem Zettelchen von ihm.
Ich hab mich (mal wieder) emotional völlig übernommen. Mit bescheuerter Gartenarbeit. Wer ahnt denn sowas? Aber vielleicht war genau diese Konfrontation nötig, endlich fließen die Tränen. Und nun?
Ich mach weiter, bin stolz, dass ich die Möbel so gut verpacken konnte und stelle etwas fest an mir, das ich bisher nicht kannte: angefangene Arbeiten mache ich fertig, egal was ist. Und zwar nicht mal mit Widerwillen so wie früher, wenn ich als Hilfskraft heilfroh war, wenn der Akku der Heckenschere leer war und es endlich 1 Stunde Pause gab. Ob es daran liegt, dass Selbermachen mehr Spaß macht als nur Deppenarbeiten zu erledigen oder ob ich bei so manchen Arbeiten entdecke, dass man die weit einfacher und trotzdem effektiv erledigen kann oder ob mir Richi ein bisschen von seiner Konsequenz dagelassen hat – ich weiß es nicht. Ist mir auch ziemlich egal, ich weiß nur, das es nun schon öfters passiert ist, das ich erst aufhöre, wenn ich fertig bin. Und dass ich dann jedesmal ziemlich stolz auf mich bin.
Der Garten ist aufgeräumt, die Möbel abgedeckt, die Hecke zur Hälfte zurückgeschnitten (der Akku der Schere… *seufz*), der Lichtschacht sauber, alle Geräte verstaut. Ich habs mal wieder geschafft. Nur siehts halt keiner mehr.
„ Ach ja, Richi: du hättest dich gar nicht so anscheißen müssen, die Tujen sind immer noch grün obwohl ich wie ein Berserker gewütet hab. Hättest du ruhig längst machen können. Nur mal so als Info.“
Genug für heute, Arbeitseifer und Motivation sind müde. Ich auch.