Schwellentag (Tag 39)

Morgengedanken

Was tu ich hier eigentlich? Ich esse, schlafe, lese, stricke, arbeite, gestalte Räume um, atme, lache, genieße Momente, rede – von außen wirkt es, als führe ich (wieder) ein ganz normales Leben. Mein Mann ist tot und ich geh zur Tagesordnung über.

„Toll gemacht, dass du das so schnell verarbeitet hast und darüber hinwegkommst.“

Hallo? Das ist kein Test, den ich unvorbereitet trotzdem mit Bravour gemeistert habe und für den ich mir jetzt eine Urkunde an die Wand nageln kann.

Ich hasse mich dafür, dass ich völlig absurde, unverständliche Tatsachen so schnell integrieren kann. Warum wälze ich mich nicht seit Wochen heulend und kreischend am Boden, unfähig auch nur zu atmen? Warum sterbe ich nicht an Austrocknung, weil meine Tränen all meine Körperflüssigkeiten aufgebraucht haben? warum gibt es Stunden, ja Tage, wo es mir gut geht und ich das Gefühl habe, das Unumkehrbare voll integriert zu haben?

Ich hasse mich dafür, dass ich lerne ohne ihn zu leben, mir neue Fertigkeiten aneigne und auch noch stolz darauf bin, wenn ich etwas schaffe. Ich will doch gar nicht ohne ihn leben – und wäre er noch da, müsste ich nichts davon erlernen. Wie kann man auf etwas stolz sein, was man gar nicht möchte?

Ich hasse mich dafür, dass ich die Tatsache „UNWIEDERBRINGLICH VORBEI“ akzeptiere und mir denke: Na, wenn sich da eh nix mehr ändert, kann ich ja auch jetzt schon anfangen, mich in dem neuen Status Quo einzurichten. Warum wehr ich mich nicht dagegen? Warum lehn ich mich nicht auf? Warum versuche ich nicht, die Zeit zurückzudrehen und alles anders zu machen?

Trauere ich nicht richtig? Hab ich Richi nicht genug geliebt? Ist mir das alles völlig egal? Bin ich ein kaltes, empathieloses Monster, unfähig zu wahren Gefühlen, nur auf die Wirkung nach außen bedacht?

NEIN. NEIN! NEIN!!

Nichts davon ist wahr, außer zweier Tatsachen: Richi ist tot und ich komm (für mich) meistens ganz gut zurecht damit.

All diese „Vorwürfe an mich selbst“ stammen von Bildern, wie es „sein sollte“, zusammengebastelt in Jahren seeliger Unwissenheit aus Büchern, Filmen und Allgemeinmeinungen. Vermischt mit all den Selbstzweifeln, die Richi mir in mühevolker Kleinabeit genommen hat – und die jetzt wieder ungehindert vor sich hinköcheln können – ergeben sie eine buntgemischte Suppe an Negativität.

Und warum? Weil die „erste Zeit der Trauer“ sich dem Ende zuneigt, der erste Schockzustand sich auflöst (er ist nur einer Fassungslosigkeit gewichen, sonst nix) und der Alltag sich leise einschleicht. Ich breche nicht mehr unkontrolliert vor Fremden in Tränen aus, ich bin fähig Stunden im Geschäft zu stehen und freundlich Kunden zu beraten, ich kann wieder in die verschiedenen Rollen schlüpfen.

Ich weine wenn ich schreibe, ich weine abends im Bett, ich weine, wenn ich allein im Geschäft sitze. Das sieht niemand mehr. Und ich hab auch absolut keine Lust, jedesmal zu kommunizieren: „Hallo, ich bin grad traurig. Ich zerbreche gerade innerlich. Ich ertrage das alles keine Sekunde länger, es tut zu weh.“ Das wäre als würde ich mit meinem Schmerz hausieren gehen. „Guck, ich leide eh noch imner. Hast es eh gesehen?“

Also wirke ich nach Außen ziemlich gefestigt und stabil. Und lasse dieses Trugbild stehen, denn welche Alternative hab ich denn? Ja klar, ich könnte keine Rücksicht darauf nehmen, wie die „Gesellschaft“ tickt, es könnte mir egal sein „was sich schickt und was nicht“, was als richtig oder falsch angesehen wird. Das geht aber nicht, dazu sind Gesellschaftsnormen zu fest verankert in unseren Köpfen. Auch in meinem. Ich mach das nicht um gut dazustehen oder jemanden zu schonen – das passiert automatisch. Meist fällt es mir erst im Nachhinein auf, dass ich mal wieder „brav funktioniert“ habe.

Augefallen ist mir diese Diskrepanz zwischen Schein und Wirklichkeit jetzt in den zwei Tagen, wo ich alleine bin und auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen muss. Wo ich einfach weinen kann, wenn der Schmerz zu groß ist. Das klingt jetzt erstmal furchtbar (sie sitzt alleine daheim und weint), ist es aber nicht. Ich bin froh über die Möglichkeit meiner Trauer Raum geben zu können. In mir drin ist einfach zu wenig Platz dafür. Jetzt kann sie fließen, und das ist befreiend.

Die grenzenlose Trauer und der schier unerträgliche Schmerz sind meine „Freunde“ geworden, meine Vertrauten, die mit mir gemeinsam daran arbeiten, das Unbegreifbare verständlicher zu machen. Sie bilden eine direkte Verbindung zu Richi. Und ich habe sie in den letzten Tagen vernachlässigt, sie zurückgedrängt, ignoriert, verleugnet. Nun kommen sie mit voller Wucht zurück wie gröhlende Partygäste, die schon vorgeglüht haben. Das ist nur im ersten Moment befremdlich.

Ich wünschte mir all dem noch viel mehr Raum geben zu können, die nächsten Tage und Wochen nur „sein“ zu müssen, ohne Verpflichtungen und Verantwortung. Ich glaube es wäre erträglicher als dieses „Schauspiel“ von Vernunft und gutem Benehmen.

Mich tragen lassen von den wiedersprüchlichen Emotionen und Gefühlen, und nicht mehr ERtragen müssen von Normen. Ich möchte nicht mehr funktionieren, ich möchte inmitten der Trümmer meines Lebens sitzen und Fragmente herausklauben. Um es zu verstehen, zu begreifen.

Der Tag

Heute werden die Birken gefällt, ich möchte die Gartenarbeit vereinfachen. Außerdem stand das ohnehin auf unserer Zukunfts-Todoliste. Das ist also in Ordnung. Sehen möchte ich das nicht, verkriech mich im Haus. Ich möchte nicht dabei sein, wenn schon wieder etwas stirbt, was jahrzehntelang da war.

Ich lese, obwohl ich gar nichts mehr über Trauer lesen mag. Wozu auch, ich lebe mittendrin. Dann aber stoße ich auf eine Textstelle, wo es „klick“ macht.

Meine Texte locken dich an. Ich kleide dich in Sprache und du wirst sichtbarer.

JA! Genau das ist es – mit meinem Schreiben und Reden mache ich Richi sichtbar, greifbar, lebendig. Ich kann ihn spüren wenn ich schreibe, über ihn rede. Ich kann ihn sehen, hören, ihn mit all meinen Sinnen wahrnehmen. Wie in der Serie (dem Film?) „Der Unsichtbare“ ziehe ich ihm etwas über, damit er gesehen wird. Das ist ein schönes Bild. Es geht nicht um mich – es geht um ihn.

Der Tag zeigt mir mal wieder, wie glitschig die Zeit geworden ist. Gestern noch glaubte ich, einen Schritt nach vorne geschafft zu haben. Heute stehe ich wieder am Anfang. Heute ist es „erst gestern passiert“. Nichts ist besser geworden, leiser, sanfter, erträglicher. Alles ist genau so zerfetzend wie an Tag 1. 6 Wochen schieben sich zusammen zu einem Wimpernschlag, zu einem Brei.

Ich komm mir vor als hätte ich nur knapp ein Erdbeben überlebt, verschüttet in meinem eigenen Haus. Und nachdem ich mich mühsam versuche herauszugraben, erschüttert ein Nachbeben den fragilen Schutthaufen und lässt abermals alles über mir zusammenbrechen. Ich rutsche wieder ganz nach unten… und soll nun von vorne anfangen. Wie oft noch? Wie kann ich jedesmal aufs Neue die Kraft aufbringen, mich da wieder hochzuarbeiten? Oder geht es beim zweiten, dritten, vierten Mal leichter, weil die großen Schuttblöcke immer kleiner zerbrechen? Ich weiß es nicht und eigentlich ist es mir egal – es tut jetzt weh!

Draußen werden weiter die Bäume gefällt und alles, was ich am Ende des Tages dazu sagen kann, ist: danke, dass ich es nicht machen musste.

Wieder stirbt ein gemeinsamer Teil unseres Lebens, unwiederbringlich vorbei, veränderte Landschaft, ungewohnter Anblick. Und ebenso wie ich es gleichzeitg kaum ertrage und WEISS, das es richtig ist – genau so fühl ich mich in allem.

Diesen unfassbaren Spannungsbogen erwarte ich auch von meinem Umfeld, so unfair das auch klingt. Ich erwarte, dass sie meinen Schmerz aushalten, auch wenn er für „Außenstehende“ kaum ertragbar ist (weil sie alles dafür geben würden, ihn zu lindern – was nicht möglich ist) UND gleichzeitig erwarte ich, dass sie anerkennen, das er richtig und „gut“ ist.

Ich erwarte, dass sie mir helfen ohne ihnen eine Gegenleistung bieten zu können. Nicht mal das gute Gefühl, dass ihre Hilfe etwas bewirkt hat, kann ich anbieten. Das tut mir weh, ich würde ihnen allen gerne mehr bieten können. Mehr als ein geschluchztes „danke“. Mehr als ein leises „nein danke, ich möchte das jetzt nicht“. Es ist einfach unfair selber zu erwarten und gleichzeitig zu fordern: „Erwarte dir aber bloß nichts davon!“

Warum mache ich mir jetzt, gerade heute, wo alles wieder über mir zusammenbricht, Gedanken um andere? Um abzulenken von meinem eigenen Schmerz? Um zu beweisen, dass ich immer noch Empathie empfinde? Wem? Ich muss niemandem etwas beweisen. Vielleicht, weil ich Angst habe, die Geduld meines Sicherheitsnetzes könnte eines Tages erschöpft sein, weil sie noch weniger verstehen, wie das alles sein kann und ich immer und imner wieder von vorne beginne. Vielleicht auch weil ich mich mies fühle, weil da draußen 5 Leute seit Stunden für mich arbeiten und ich nicht fähig bin, sie auch nur im Geringsten zu unterstützen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es mir leid tut.

Nachmittag

Heute finden mich die benötigten Informationen ohne dass ich sie suche. 31.10. – Schwellentag, Vollmond, alle Tore sind offen zur Anderswelt, alle Schleier gelüftet. Morgen, übermorgen – alle Heiligen und alle Seelen können Kontakt aufnehmen. Nun ist mir klar, warum die „Verbindung“ heute so klar und intensiv ist. Richi kann durchkommen, fast ohne Übersee-Telefonrauschen. Und ich kann ihn hören, sehen, fühlen. Zum ersten Mal heute sehe ich ein winzig kleines Licht flackern in dem Dunkel, das mich umgibt.


..Komm zu mir, mein Engel, heute Nacht. Sprich mit mir, zeig dich, bleib bei mir…“ Auch wenn es weh tut, so ist es doch auch schön. Mit dir sn meiner Seite ist es gut, mit dir ertrag ich jeden Schmerz. Jede Träne ist ein Zeichen von dir, zeigt mir, dass du da bist. Jede Minute, die ich weiterlebe, ist gelebte Liebe für dich – mein Herz schlägt für dich, jeder Atemzug ist für dich, jeder Gedanke gilt dir. Durch mich lebst du weiter, wirst niemals vergessen.

Meine Trauer gilt all dem, was wir verloren haben, unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart, unsere Zukunft, all unsere Pläne, Ziele, Wünsche. Ich kann nie wieder zurück in das Leben, das wir führten. So wie es dich als Mensch nicht mehr gibt, gibt es den Menschen, der ich war, nicht mehr.

Doch mein Schmerz gilt dir, er BIST du! Nicht weil du mich verletzen willst, sondern weil es ein nie zuvor dagewesenes Gefühl brauchte um mich zu erreichen. Um mich auf allen Ebenen zu berühren, körperlich, geistig, seelisch. Er erreicht Stellen von denen ich nicht mal ahnte, dass es sie gibt. Nichts anderes hätte in meiner Betäubung zu mir durchdringen können, daher ist er gut. DU bist gut. Ich liebe dich, mein Schatz. Lass uns Samhain feiern, auf unsere Art – nur wir beide im Kerzenschein. Ich werde still sein um dich besser zu hören. Die Augen schließen um dich zu sehen.