So viele erste Male (Tag 38)

Morgengedanken

…zum gestrigen Abend…

Anfangs fühlte ich mich wie ferngesteuert. Ich hatte ja Zeit, brauchte mich nicht beeilen, es wartete niemand auf mich. Also erledigte ich das Tanken von Richis Auto mit seiner Tankkarte. Ich hatte das vor mir hergeschoben – und jetzt wusste ich auch, warum. Ich fühlte mich wie eine Hochstaplerin. Ich hatte noch nie Richis Auto betankt, wusste nicht mal sicher wo der Tankdeckel ist. Dann Karte hinhalten, Pin und Kilometerstand eingeben… ständig wartete ich darauf, das jemand sagt: Das ist aber nicht Ihre Karte…

Nächster Stop: Lidl, Wocheneinkauf. Ich stellte fest, dass ich offenbar in den letzten Tagen/Wochen unseren Lidl unbewusst gemieden habe und nur überall anders schnell ein paar Sachen geholt hatte. Bevorzugt Geschäfte, in denen wir sonst nie einkauften (der neue Spar geht auch, der ist so unübersichtlich und Richi hat die Eröffnung nicht mehr erlebt.

Aber Lidl war immer unser Hauptsupermarkt. Ich stand dort drinnen und kriegte kaum Luft. Bei jedem 2. Produkt wollte ich automatisch zugreifen, weil er das gern mochte – oder ich sah ihn vor/neben mir, wie wir gemeinsam den Einkauf erledigten. Es war furchtbar. Ich versuchte so rasch als möglich fertig zu werden, nur leider wusste ich nach dem Betreten absolut nicht mehr, was ich eigentlich brauchte.

Offenbar ist beim Thema Einkauf ein wildverzweigtes „Straßennetz“ angelegt, dass plötzlich völlig nutzlos und sinnbefreit ist. Blöderweise merkt man sowas erst, wenn man sich mitten in dem Labyrinth befindet, sonst könnte man ja vorher schon „abbiegen“.

Irgendwie hab ich es dann doch geschafft und saß erstmal ein paar Minuten im Auto, eh ich heimfahren konnte.

Nächster Halt: leeres Haus…

Hier war ich zumindest vorbereitet. Aufsperren, Einkauf reinbringen, zusperren, Lichter aufdrehen. Stille. Unangenehm? Ich stand ganz ruhig und spürte in mich: nein. Komisch ja, ungewohnt auch, aber nicht beängstigend. Ich hörte jede einzelne Uhr ticken – ich wusste gar nicht, dass bei uns soviel tickt.

Päuschen, sacken lassen, fühlen wie es mir geht. Was möchte ich jetzt gerade? Was brauch ich? Wie fühle ich mich wohl?

Fernseher einschalten – damit war mal die Stille weg. Ind ich musste ja niemandem beweisen wie tapfer ich bin, ich wollte diese Frei-Zeit gut für mich gestalten, wollte so wie früher Freude an ein pasr Tagen Auszeit haben.

Einkauf wegräumen, Brote und Tee fürs Abendessen machen, Kerzerl anzünden, Bettzeug holen (alleine schlaf ich in der „Mitte“ des Hauses besser), Bücher und Strickzeug bereitlegen, bequemes Gewand anziehen – fertig.

Und es war gut! Ich wollte lesen und ich wollte essen – durch die ganzen Arbeiten davor, damit dann alles gemütlich ist, hab ich mich schon richtig drauf gefreut, mich endlich hinsetzen zu können.

Ja, ich muss sagen, ich hatte einen schönen Abend. Ohne Erwartungshaltung gabs auch keine Enttäuschung. Ich fühlte mich weder einsam noch traurig, eher so wie an einem Abend wo Richi länger in der Arbeit bleiben musste und ich mal „sturmfrei“ hatte. Ich blieb in dieser gedsnklichen Stene, man muss es sich nicht unnötig schwer machen. Auch wenn ich weiß, dass es eine Illusion war, es gibg mir gut dabei – warum sollte ich die zerstören, indem ich mir die Realität vor Augen halte?

Offenbar bin ich ziemlich früh schlafen gegangen – meinte mein Handy heute morgen: 12 verpasste Whatsappnachrichten nach 21:00.

…zum heutigen Tag…

Es geht mir immer noch gut, meine (neue) Morgenroutine klappt schon recht flüssig. Wie der Tag heute wird? Ich lass es auf mich zukommen, es lebt sich einfacher ohne Erwartungen und Plänen. Da ich in den absurdesten Situationen immer wieder völlig unerwartet vor einem Trümnerhaufen steh, nutzt es auch wenig sich vorab zu wappnen.

Ich merke, wie ich selbst mich verändere. Die klassischen „Aufreger“ tangieren mich, wenn, dann nur kurz. Unfreundliche Kunden? Mieter, die abspringen? Ein Lockdown steht bevor? Irgendeine Behörde oder Firma hat wieder mal Mist gebaut? Tjoa, Shit happens. Ist in meiner Welt alles nicht wirklich wichtig. Klar ärgere ich mich vielleicht kurz drüber, aber zum richtig aufregen fehlt mir die Energie. Ich hab so viele Gedankenkreisel in meinem Kopf, da passen solche Trivialitöten nicht mehr rein.

Ich achte mehr auf mich, auf meine Bedürfnisse und Wünsche, auf meibe aktuelle Stimmung. Ich kommuniziere sie auch ziemlich klar und deutlich, ohne Rücksicht darauf, ob ich damit jemanden auf die Zehen steig oder gar verletze. Natürlich will ich niemandem absichtlich wehtun, aber in den Dimensionen des Trauerschmerzes hat Zecherlsteigen einen ziemlich niedrigen Wert.

Vieles hat für mich an Sinn und Wert verloren, wenn es nicht meiner monentanen Hauptaufgabe – gut für mich und meine Kinder zu sorgen und uns ein gemütliches Nest zu schaffen – dient, interessiert es mich herzlich wenig. Mein Sichtfeld ist sehr begrenzt. Die ganzen (Nerven)-Autobahnen sind kaputt und auf den Feldwegen, die ich bisher wieder anlegen konnte, braucht man keinen Porsche für höher-schneller-weiter. Ein Traktor wäre toll, aber zur Zeit tuts auch noch das Leiterwagerl, ich hab nicht so viel Gepäck dabei. Ein paar Erinnerungen und ganz viele Tränen. Und Richis Kraft und Liebe – ich bin immer noch überzeugt, dass es seine Stärke ist und nicht meine! All die Träume, Pläne, Ziele – sie gibt es nicht mehr.

Ich kann ganz gut einschätzen und erspüren, was geht und wofür es zu früh ist. Manches muss ich testen um zu erkennen: geht (noch) nicht. Bei anderen Sachen brauch ich gar nicht probieren, da streikt die Vorstellungskraft schon vorher.

Seit ich weiß (in meinem schlauen Buch gelesen hab), dass ich die Trauer nicht überwinden, sondern integrieren soll/darf, weil sie mich ohnehin für den Rest meines Lebens begleiten wird, geht manches leichter. Ich vergeude meine Kraft nicht mehr für Kampf und Abwehr. Das ist für mich ein guter Ansatz.

Es ist ein Irrglaube, dass man an schweren Schicksalsschlägen wächst und als „besserer“ Mensch daraus hervorgeht. Das funktioniert nur in Büchern oder Filmen, die (meine) Realität hat kein Happy End, kein „…und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute…“. Einer der beiden „sie“ IST gestorben und für den zweiten ist es ein Fluch weiterleben zu müssen.

Das zu begreifen macht es irgendwie erträglicher. Ich MUSS keine vorgegebenen Schritte absolvieren um auf der anderen Seite des Abgrunds als „erleuchteter“ Mensch herauszukommen. Ich muss mir mein Leben in genau diesem Abgrund einrichten, so gut es geht. Ich werde dadurch kein besserer Mensch, ich werde egoistischer, ichbezogener, abgestumpfter was das Leid anderer angeht und einsamer. Ich war vorher schon viel zu faul um mich für irgendeine große Sache zu engagieren – und das wird sich vermutlich jetzt nicht ändern. Meine bisherigen „negativen“ Eigenschaften wie Jähzorn, Selbstzweifel und Ungeduld haben sich nicht in Luft und Liebe aufgelöst, im Gegenteil. Denn jetzt fehlt mein Puffer, DER Mensch, der mich runterbringen konnte, der mich aufbauen konnte, der zu mir durchdrang, wenn ich „dicht machte“, der fehlt jetzt!

Diese Erkenntnis ist nicht schön, aber wichtig. Es erspart viel Kraft für Wege, die für mich nicht betretbar sind. Und sie gilt natürlich ausschließlich für mich und für den Moment. In einem Tag, einem Monat, einem Jahr kann das völlig anders aussehen.

Der Tag

Ich verspüre Wiederwillen, das Haus zu verlessen und ins Geschäft zu fahren. Es regnet, es ist kslt – mein Zuhause wird immer mehr Schutzraum und Rückzugsort für mich. Dort fühl ich mich wohl, sicher, geborgen, Richi so nah. Ich möchte nicht in die kalte, grausliche Welt da draußen. Dort bin ich die „trauernde Witwe, die trotzdem alle Anforderungen erledigen muss und dabei auch noch so tun muss, als sei alles in Ordnung“. Daheim fühl ich mich weder traurig noch als Witwe, nur als Frau meines geliebten Mannes, der keine Anforderungen an mich stellt. Dort darf ich sein., muss mich weder zusammennehmen noch beherrschen noch gekünstelt freundlich sein.

Ich merke, dass ich mich hierher flüchte, in den virtuellen Richi-Raum, der gibt mir ein wenig Halt. Ich bin nämlich selbst immer und immer wieder überrascht, wenn mich die Trauer unvermutet überrollt. Jedesmal, wenn ich mir denke: „jetzt wirds ein bisschen besser“, steht sie plötzlich vor mir und grinst hämisch. So schlau und einsichtsvoll können all meine (Morgen)Gedanken gar nicht sein, dass es mich nicht immer wieder kalt erwischt. Das ist irgendwie frustrierend.

Ich möchte reden, nicht schreiben. Ich weiß aber nicht mit wem und worüber. Über Richi, über mich – ja. Aber es gibt kein „Thema“ über das ich reden könnte. Nichts, was ich erklären könnte, woraus ein beidseitiges Gespräch entstehen könnte. Ich hab doch schon alles erzählt, es gibt nichts Neues zu berichten, nichts mehr was noch erledigt werden müsste.

Es wird still um mich. Die Behörden arbeiten, die Formulare sind alle ausgefüllt, Abos abgemeldet oder gekündigt. Was jetzt kommt (oder schon da ist), ist einrichten im normalen Alltag. Das kann ich nicht und will es nicht, es geht zu schnell. Die Welt dreht sich zu schnell, ich kann nicht mithalten, bin viel zu müde dazu für diese Hetzjagd.

20min später hab ich ein „Hoch“, das einem schwindlig werden könnte. Heut kann ich es wieder. Heute ist Hochschaubahntag. Rasend schnell, inklusive Loopings und Zurückfahren zum Schwungholen. Ich hab ja schon ein bisschen gelernt, einfach Anzunehmen, was grad ist – aber hier komm ich mit mir selbst fast nicht mit.

Nachmittag

Der erste komplett freie Nachmittag, ich bin allein. Erst will ich ihn wieder mit Aktivitäten vollstopfen, damit es nicht so still ist. Und dann sitz ich hier und denk mir: NEIN. Heute tust du nichts mehr. Außer lesen, schlafen, essen, still sein. Kein Aktionismus, keine Beschäftigungstherapie, keine Verantwortung, keine Verpflichtung. Für niemanden da sein (müssen), nur sein. Die Stille nicht nur ertragen, sondern bewusst genießen. Zur Ruhe kommen. Auch in Ruhe zu trauern, ohne Rücksicht zu nehmen. Zu weinen ohne Angst zu haben Lucy zu verängstigen.

Der Nachmittag geht viel zu schnell vorbei., es tut gut, einmal nichts zu tun. Jetzt bin ich bereit, endlich das (saukalte) Wasser aus dem Womo zu lassen und den Wagen nach vorne zu fahren, damit Platz ist beim Bäume fällen. Das mit dem Wasser ist schwer, ich find den Stöpsel nicht gleich, es tut weh. Körperlich. Die Gerüche im Womo tun auch weh – seelisch. Doch als ich am Fahrersitz Platz nehme, ist all das wie weggeblasen. ICH bin jetzt der Käpt‘n. Erstmal nur für 10m, aber das ist genug…