Null-Linie (Tag 30)

Nun haben wir also 1 Monat ohne dich geschafft. Wieder ist der 22., ein Tag, der für mich 22 Jahre lang eine besondere Bedeutung hatte – nun hat er eine andere, nicht weniger bedeutsame.

Wenn ich zurückblättere, kann ich nicht erkennen, dass ich auch nur einen Schritt weitergekommen wäre. Auf und ab, hin und zurück, 1 Schritt vor, 3 zurück… Und doch muss es so sein, denn ich bin hier – und du so fern, so weit weg. Die Menschen „sehen“ meinen Schmerz nicht mehr, ich funktioniere. Nein, nicht die Familie und Freunde – die erleben ja tagtäglich, wie ich kämpfe, versage, wieder von vorne beginne.

Aber all die Bekannten, Kunden, Fremde – niemand von ihnen erkennt noch, wie es mir geht. Ich plaudere, ich lächle, ich berate, ich beantworte Mails, ich telefoniere, organisiere und erledige. Ich mag diese Rolle nicht, fühl mich wie eine schlechte Schauspielerin, die nicht geprobt hat. Ich passe mich der Gesellschaftsnorm an – und das kostet unglaublich viel Kraft. Weil ich dich dabei verleugnen muss, so als wäre nichts passiert.
„Geht schon.“
„Muss ja weitergehen.“

Floskeln, bloß nix antippen. Ausweichen auf Corona, da gibt es gemeinsames Jammerpotential, das betrifft alle. Bloß nicht über meine Trauer sprechen, nicht jeder hat ein „noch schlimmeres Schicksal“ parat, kann „mithalten“ im Bewerb um den größten Schmerz. Es ist zum Kotzen, als gäbe es was zu gewinnen.

Dein Traum, einfach alles hinter uns zu lassen und Europa zu erkunden wird immer attraktiver, weg aus dieser verlogenen Gesellschaft, wo jeder nur an sich denkt. Nein, ich hasse nicht diese Gesellschaft, sondern mich dafür, dass ich da mitspiele, den Gepflogenheiten entspreche und brav Männchen mache.

All die guten Tipps…
„Gib dir Zeit, aber gib dich nicht auf.“
„Die Zeit heilt alle Wunden.“
„Irgendwann wird es besser.“

Sie machen mich wütend. Ich geb mich nicht auf, sonst wär ich längst nicht mehr hier!
Die Zeit heilt einen Scheiß, der Alltag deckt die Trauer zu und dämpft sie, sonst nix.
Was soll je besser werden? Du bist nicht mehr da und kommst auch nicht mehr zurück. Punkt.

Aber vielleicht ist ja das als Fortschritt zu sehen, dass ich wütend werden kann, mich ärgern kann, „normale“ menschliche Reaktionen zeige auf Dinge, die mir nicht gefallen. Dass ich nicht bloß gleichgültig herumsitze und mich nichts mehr berührt. Vielleicht ist Wut einfacher zu empfinden als Freude.

Heute war die erste Nacht, wo ich 2 Stunden wach herumlag und nicht wieder einschlafen konnte. Wenn es dunkel und still ist, hat man viel Zeit zum Grübeln.

Gestern hat mir Su Fotos von dir geschickt, von eurem letzten Event, wo du Salat pflücken musstest. Du erschienst mir so fremd auf den Bildern. Neue Bilder und ich finde kaum etwas von „dir“ darin wieder. Warum ist das so? Haben sich die vertrauten Fotos so über die Realität gelegt, dass ich „dich“ nicht mehr erkennen kann, wenn ich unbekannte Fotos sehe?

Ich habe das Gefühl, es wird von Tag zu Tag schlimmer, die “guten” Momente immer weniger – oder ich erkenne sie nicht mehr – und ich versinke mehr und mehr in… ja, in was eigentlich? Selbstmitleid? Trauer? Unverständnis? Aussichtslosigkeit?

Ich weiß es nicht, kann es nicht einschätzen, bin nicht bereit Hilfe anzunehmen (die sich in “such dir eine Therapeutin” erschöpft) oder meine Sichtweise zu ändern, um die positiven Dinge zu sehen. Ich bin bockig wie ein kleines Kind – und verabscheue mich dafür. Ändern kann ich es aber grad auch nicht.
Ich schreibe und denke mir gleichzeitig: “Das zeigst du aber jetzt niemandem mehr, das sind deine ureigenen Gedanken und Gefühle, die gehen keinen was an. Die kannst du eh niemandem zumuten.”

Ich zwinge mich dazu sie dennoch zu veröffentlichen, denn wenn ich eines weiß, dann, dass ich mich still und leise immer mehr in mich zurückziehe und irgendwann den Ausgang nicht mehr finden würde. Ich würde aufhören zu erklären, zu reden, zu kommunizieren. Ich würde alles lächelnd mit “geht schon” abhandeln. Ich würde gar niemandem mehr zeigen, wie es in mir aussieht, um niemanden zu belasten. Und ich würde niemandem mehr die Möglichkeit bieten an mich heranzukommen.

Das ist sehr, sehr verlockend – aber natürlich mehr als kontraproduktiv, das ist mir schon klar. Also schreibe ich weiter, Tag für Tag, breite mein Innenleben aus und zeige MICH und nicht ein Wunschbild.

Was würdest du jetzt sagen, mit mir machen, mein Schatz? Wie würdest du reagieren? Oh, ich weiß es, weiß es ganz genau.
Du würdest mich in den Arm nehmen, mich kurz trösten und mir dann einen Lösungsweg anbieten. Gehen müsste/dürfte ich ihn dann wieder alleine. Du würdest sagen: “Ist ja alles nicht so schlimm, ja, du hast dich da übernommen, hast nicht aufgepasst, aber wenn du nun….”
Tjoa, nun fehlt mir halt nur deine Lösungs-Idee, dein Rat, dein Wissen und deine pragmatische Art, Lösungen zu finden, wo ich nur Probleme und Drama sah.
Dabei hast du nie schöngeredet, wenn ich mal wieder was in den Sand gesetzt hab, aber mich auch nie verurteilt dafür.
…Ist so, schau ma, das wir das Beste draus machen können…

Herzschlag

Herrschaftszeiten, das muss doch zu schaffen sein, andere haben das ja auch hingekriegt. Ich werde doch wohl ein halbwegs normales Leben führen können, auch wenn du nicht mehr körperlich anwesend bist! Wir waren ja keine siamesischen Zwillinge, sondern zwei eigenständige Menschen. Und wie oft habe ich mich über die “Einengung” beschwert, wenn du alles für mich übernehmen und erledigen wolltest. JETZT hab ich doch die Chance zu beweisen, dass ich es kann.

Genau DIESEN Teil von mir brauch ich jetzt um mich da durchzukämpfen, aber noch lasse ich ihn immer wieder sehr schnell verstummen, verbiete ihm das Wort. Es ist zu früh um – Achtung Kitsch! – wie Phönix aus der Asche zu steigen.
Noch bin ich nicht bereit, diesem Teil in mir die Oberhand zu lassen, klammere mich immer noch an Unwiederbringlichem fest, bin nicht bereit mich aufzurichten und der Welt den Mittelfinger zu zeigen und zu schreien: DANN MACH ICH DEN SCHEISS EBEN ALLEIN! WEIL ICH ES KANN!

ich hab mich solange hinter dir versteckt, dir die Drecksarbeit überlassen, um mich selbst in ein besseres Licht zu stellen – ich muss das erst üben, selber den Mund aufzumachen, mich zu behaupten und das zu tun, was ICH will, ohne Rücksicht drauf zu nehmen, ob sich “das schickt” (eine deiner Lieblings-Sarkasmus-Aussagen). Dieses Grinsen, wenn du mal wieder vor Ironie triefend mit DivenStimme gesagt hast” Aber das schickt sich doch nicht.” – und dann genau das getan hast…

Aber dieser Teil ist da, bringt sich auch immer wieder in Erinnerung, versucht das Kommando zu übernehmen. Für dich konnte ich das – deine “Celebration of Life” war deshalb so unkonventionell und besonders, weil ich mich getraut habe, alle Konventionen über Bord zu werfen und in deinem Sinne zu handeln.
Ich hab dich immer dafür bewundert, dass du sagst was du denkst und tust, was du für richtig hältst – ohne darauf zu achten, ob das jemanden passt oder nicht. Respektvoll unangepasst – das beschreibt dich ganz gut. Und es hat immer funktioniert, alle haben deine Art akzeptiert, toleriert und manche auch bewundert.

Für mich selbst kann ich das noch nicht, aber ich bleibe dran. Vielleicht erlaub ich “dieser Bettina” das Ruder zu übernehmen, wenn ich wieder im tristen “Alles-sinnlos-Modus” versinke. Ich kann ja dann immer noch sagen, diese Kraft kommt von dir, falls ich jemanden auf die Zehen trete dabei. 😉 Geht das als Entschuldigung durch? Ich denke schon. Und wenn nicht? So what? Damit muss mein Gegenüber dann halt leben, ich kann mich nicht um alles kümmern.

Weißt du, Herzibinki, ich mag mich so wie ich jetzt bin nicht besonders. Klar, ist eine besondere Zeit und alles ist anders, ungewohnt, schwierig – aber wir beide als Dreamteam haben Herausforderungen immer gemeistert, egal wie schlimm sie uns erschienen. Da sollten wir die doch auch hinkriegen, oder? Und wenn ich mal wieder ganz ganz down bin, dann schick mir doch ein Zeichen, damit ich mich erinnere: “du bist eh da, mir kann nix passieren, alles ist gut.”

Deal? Du darfst dir auch selber aussuchen, was das für Zeichen sind – aber lass mich bitte in der Nacht schlafen und weck mich nicht mittendrin, mit solchen Zeichen kann ich wenig anfangen. Nimm lieber solche wie deinen Innenspiegel im Auto, der jedesmal verstellt ist, wenn ich einsteige. Das sind Zeichen, die ich kapiere.

So, und nun mach mal da oben wieder deinen Job und ich mach hier herunten meinen,

Bussi, deine Prinzessin
(lieb dich)