Durchatmen (Tag 43)

Hätten wir das auch geklärt, was passiert, wenn das Limit überschritten ist: der Kopf schaltet ab. Ich hab natürlich nicht vergessen, dass Richi nicht mehr da ist – aber heute hat es kaum einen Stellenwert. Selbst wenn ich versuche, dran zu denken, wird das sofort von Dingen überlagert, die als nächstes zu tun sind.

Die Grundeinstellung hat ein bisschen den garstigen Unterton: „Er ist eh morgen auch noch tot, heute mach ich mal was anderes.“

Das klingt böse, aber offenbar braucht man auch in Extremsituationen mal eine Verschnaufpause. Und da wird auf frühere Gewohnheiten zurückgegriffen – ich erledige heute die Dinge so wie früher: konzentriert, eins nach dem anderen, auf die Sache fokussiert. Kein Leerlauf, keine Ablenkungen, kein Grübeln.

Und mir ist durchaus bewusst, dass dieses Hoch nicht allzulange anhalten wird, aber heute bin ich gewillt, es auszunutzen. Und am Abend mit meiner Tagesleistung zufrieden sein.

Was ich auch geschafft habe, neben Dinge endlich ins Geschäft mitnehmen, Lagerverwaltung fast abschließen, aufräumen, verkaufen hab ich die Mieterabrechnungen erledigt, die Regale umgeräumt, eine Übersicht erstellt, welche Arbeiten noch zu erledigen sind, daheim aufgeräumt, gekocht, telefoniert, geplaudert und und und. Ja, ich bin zufrieden.

Solche Tage geben Kraft und Energie, sie nicht zu nutzen wäre dumm, auch wenn ich jetzt nicht jubelnd und singend durch die Gegend renne und dazwischen immer wieder das Gefühl habe, das „geht doch nicht“, tun sie gut.

Ein bisschen durchatmen, Luft holen für die nächste Runde, ein paar Blümchen in meiner verwüsteten Landschaft anpflanzen und gießen.

Stille Melancholie macht sich breit, aber nicht schlimm heute, aushaltbar. Ich stricke am Schal weiter, lese dazu ältere Beiträge um die passende Farbe zu finden für den jeweiligen Tag. Richi ist heute nicht „da“, aber nicht auf die schmerzhafte Art des Verlustes, mehr so, als müsste er Überstunden machen und würde erst später heimkommen. Nichts, worüber man sich Sorgen macht. War halt viel zu tun, er hatte heute keine Zeit um anzurufen und nun kommt er später – mach ich mir halt einen gemütlichen Abend, während ich auf ihn warte.

Zum ersten Mal lese ich die früheren Beiträge – und hab das Gefühl, ich hätte sie vor 20, 30 Monaten geschrieben. Manches ist so weit weg, kaum noch nachvollziehbar. So weit bin ich schon gegangen? So weit hab ich mich entfernt von unserem Leben.? Dabei ist doch alles wie am ersten Tag. Oder?

Nein, warum soll ich mich selbst belügen. Es ist nicht wie am ersten Tag, nicht wie in der ersten Woche, nicht mal wie im ersten Monat. Es ist nicht besser oder leichter, aber es ist anders. Ich merke, dass ich mich langsam „einrichte“ in meinem… ja, was? Meinem neuen Leben? Ja, wahrscheinlich ist es das. Leben 2.0 oder so. Ein Leben um das ich nicht gebeten habe und das ich nicht haben will. Ich war zufrieden mit meinem alten Leben.

Da es aber kein Zurück gibt, niemals, muss ich mich wohl damit arrangieren. Ich habe keine Wahl.

Aber ich habe die Wahl ob ich Tage wie heute für mich nutze oder einfach verplempere. Ich hab ihn genutzt, und ich glaube, richi kommt jetzt bald heim von seinem langen Arbeitstag. Gute Nacht. ❤️

PS: mein Gefühl hat mich nicht getrogen – er war schon am Heimweg. Sein Zeichen, dass er da ist?

Die Zeichen sind selten, dafür aber um so offensichtlicher. Und es werden langsam immer mehr. ❤️