Den Tag „umdrehen“? (Tag 25)
Mittlerweile weiß ich schon beim Aufwachen ob es ein guter oder schlechter Tag wird. Es ist ein Gefühl, ein Druck im Brustkorb, das mir sagt: Das wird mühsam.
Ich schlafe wie ein Stein, sobald ich mich hinlege, bin ich auch schon weg, wache gegen 6:00 morgens auf. Ob ich träume? Ich weiß es nicht, es bleibt nicht in Erinnerung. Schade, ich würde gern von Richi träumen.
Gestern Abend hab ich es zum ersten Mal geschafft, mir einen kompletten Film anzusehen. Also so, dass ich auch die Geschichte verfolgen konnte. Wieder etwas geschafft.
Heute Früh beim Aufwachen war sofort klar: das wird doof. Diese Traurigkeit legt sich wie ein Schleier über alles. Dabei haben Lucy und ich heute einiges vor: Möbel schauen, ausmalen, Büro umräumen..
Kann ich den Tag „drehen“? Kann ich aus einem miesen einen guten machen? Denn ich möchte all diese Dinge erledigen, möchte sie mit Freude tun.
Mir fällt auf, dass es da offenbar unendlich viele Glaubensmuster gibt, die man sich irgendwann eingeprägt hat und die sich auch in solch einer Extremsituation nicht einfach ausschalten lassen, selbst wenn man „weiß“: JA, ich darf alles. Ich darf mich freuen, motiviert sein, lustig sein, traurig, grantig, wütend. Ich darf das alles.
Denn da ist eine Stimme im Kopf, die einfach nicht die Klappe hält. Die mir zuflüstert: „Gehts noch? Dein Mann, dein Seelenpartner ist noch nicht mal 4 Wochen tot und du schmiedest Zukunftspläne? Freust dich über gute Tage an denen du dich gut ablenken kannst und nicht allzu traurig bist? Wieso liegst du nicht schluchzend in einer Ecke?“
Diese Stimme ist ziemlich hartnäckig, versucht imner wieder mir ein schlechtes Gewissen zu machen, dass ich zu stark sei, alles zu leicht nähme, mich an die Gegebenheiten zu schnell anpasse, einfach ohne IHN weitermache anstatt einfach an gebrochenem Herzen zu sterben. DAS währe dann der Beweis einer wahren Liebe!
Natürlich ist mir bewusst, dass das alles Blödsinn ist (das ist so als ob man jemandem mit Spinnenangst erklärt, er brauche keine Angst haben, die tun nix – er wird dir vielleicht sogar glauben, es wissen, dass du recht hast – sich aber trotzdem weiterhin fürchten).
Richi wäre stolz auf mich, dass ich mich nicht (allzusehr) gehen lasse, immer wieder aufstehe und nicht aufgebe. Dass ich versuche die Dinge zu lernen, die er bisher erledigt hat, dass ich mich überwinde und auch sehr belastende Meilensteine versuche zu bewältigen (wie in die SCS fahren, seine Sachen wegpacken…).
Dass ich mich nicht in die spirituelle Welt flüchte, denn dort finde ich meinen Frieden, kann mit ihm kommunizieren, bin ihm nah und weiß, dass alles richtig und gut ist. Kurze Ausflüge dorthin sind ok, längeres Verweilen nicht – wir sind nicht als Menschen hier auf der Erde um uns ausschließlich auf höheren Ebenen herumzutreiben. Dann hätten wir auch gleich „oben“ bleiben können.
Das, was mich immer so verwirrt, wenn jemand mich bewundert für mein Verhalten ist folgendes: ICH WERDE DAFÜR BEWUNDERT, DASS ICH SO TOLL OHNE MEINEN MANN ZURECHTKOMME! Das ist bizarr! Ich will doch gar nicht ohne ihm klarkommen.
Jaja, klar freu ich mich über Lob, wenn ich wieder etwas geschafft habe, aber es ist einfach so paradox!
Weiterdenken
Es ist alles nicht einfach, denn obwohl er all seine Besitztümer an relativ wenigen Orten im Haus deponiert hatte, stoße ich in jedem Winkel auf ihn. Ich möchte kein Museum aus dem Haus machen, wo nie wieder etwas verändert werden darf. Ich möchte ihn aber natürlich nicht völlig auslöschen aus unserem Zuhause. Der Mittelweg erfordert viele Entscheidungen. Einiges geht ziemlich einfach, da wir schon seit langem geplant hatten auszumalen, Wohn- und Schlafzimmer zu renovieren oder Dinge endlich auszumisten, fallen mir diese Entscheidungen und Arbeiten leicht. Wir waren bei der Möbelwahl immer einer Meinung, es wird ihm also sicher gefallen, was ich kaufe.
Auch Lucy fordert ihre Umbauten, da werde ich quasi gezwungen, Räume umzugestalten,, die ich alleine nicht angegriffen hätte.
Andere Entscheidungen fallen unendlich schwer: was mach ich mit seinen Kisten voll mit Arbeitsgewand der verschiedenen Firmen? Für mich sind sie wertlos, hätte sie längst entsorgt, wenn ich gedurft hätte. Er hing daran. Ich verschiebe solche Dinge, sie sind momentan nicht wichtig.
Das Formulieren meiner Gedanken hier tut mir gut, weil ich sie da sortieren und ordnen kann. Im Kopf verschmelzen sie oft zu einem Einheitsbrei bei dem ich nicht mehr weiß was richtig oder falsch ist. Wenn ich sie aufschreibe, kann ich sie unter „Wahrheit”, „Träumerei“, „Wunsch“, „limitierender Glaubenssatz“ oder “Schwachsinn” einordnen. Dann fällt es mir auch leichter, auch die Traurigkeit für einen Moment abzulegen, wie einen Pullover mit dem mir grad zu warm ist. Ich zieh ihn später wieder an, er läuft mir ja nicht weg.
Kann man einen Tag drehen? Ich werde es heute versuchen.
Nachmittag, 15:00
Küche ist aufgeräumt, Ikea und McDonald erledigt, Einkauf ebenso – Einkaufen hasse ich im Übrigen mittlerweile wie die Pest, weil ich mich ständig dabei ertappe Dinge in die Hand zu nehmen, die er gemocht hat und die ich ihm gerne mitbringen würde – wie zum Beispiel seine Marzipanchriststollen, die es endlich wieder gibt.
Lucy hat sich ihre Wunschmöbel ausgesucht, ich hab sie online bestellt, sie werden nächsten Samstag geliefert.
Wäsche ist fast fertig gewaschen, morgen werde ich bügeln.
Fahrlehrer fürs Womo fahren lernen ist kontaktiert, am 1.11. mach ich die Gegend unsicher.
Regenbogenhof hab ich auch angeschrieben, da erfahre ich heute Abend, wann die erste Stunde für Lucy stattfindet.
Habe ich den Tag damit “drehen” können, ist es nun doch ein “guter”?
Jein – JA, ich habe viel erledigt und ich hab das nicht heulend oder widerwillig gemacht. NEIN, denn diese Grundtraurigkeit geht einfach nicht weg heute. Die echte Motivation und Freude fehlt, ist überdeckt. Ich mache trotzdem weiter, Arbeiten kann man ja auch erledigen, wenn man nicht so lustig drauf ist. Ich muss ja nicht tanzend durchs Wohnzimmer hopsen, es genügt wenn ich etwas fertig mache oder Organisatorisches erledigen kann. Schau ma mal, vielleicht wirds ja noch was – der Tag ist ja noch lange.
Abend, 19:22
Eine weitere Wand im Wohnzimmer ist fertig gestrichen und ich bin restlos erledigt, freu mich jetzt auf Tee, Fanfare, Fernseher und irgendwas zum Handarbeiten (nach fast 4 Wochen das erste Mal, dass ich daheim wieder Wolle zur Hand nehme. In der Arbeit ist das witzigerweise überhaupt kein Problem, daheim geht das gar nicht.
Doch ja, ich bin stolz auf mich, das alles heute hinbekommen zu haben. Ja, ich glaube, ich hab den Tag “drehen” können, zumindest ein bisschen. Ich werde weiter üben, da geht sicher noch mehr. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche. Wer weiß schon, was morgen ist?