Am Limit (Tag 41)

Morgengedanken

Egal, wie gut oder traurig der Tag davor war, am nächsten kann alles völlig anders sein. Also würde die Uhr um Mitternacht auf meine persönliche „Stunde Null“ zurückgesetzt.

Heute Morgen bin ich mit einem Gefühl des Widerwillens aufgewacht – kein guter Start in den Tag. Sich gegen etwas wehren zu wollen, was definitiv nicht zu ändern ist, kann keine gute Idee sein. Die Anstrengungen laufen ins Leere, eine völlig nutzlose Emotion in dieser Situation. Wieder mal eine Sackgasse.

Dieses Gefühl, absolut keine Wahl zu haben, ist grausam. Der Kopf versucht verzweifelt nach einem Schlupfloch, nach Ausflüchten – der Gedanke „Ich will das alles nicht“ prallt wie eine Flipperkugel immer irgendwo dagegen. Der Schutzmechanismus „das kann doch gar nicht wahr sein, ich will mein Leben zurück“ funktioniert nicht mehr. Egsl, wo diese Kugel dagegenschlägt, leuchtet das Schild „Tot“, „Weg!!“ und „Nie wieder“ auf.

Das ist anstrengend und ermüdend. Wie soll ich je wieder ein „normales“ Leben führen, wenn ich alle Energie brauche um zu überleben? Täglich sind Dinge zu tun und Entscheidungen zu treffen und ich hab einfach keine Kapazitäten dafür frei. All diese alltäglichen Handgriffe, diese vielen Kleinigkeiten, die man ohne Nachzudenken erledigt – ich schaff es einfach nicht, sie zu tun. Ich SEHE die Zahnpastaflecken am Waschbecken, die kaputte Wurst im Kühlschrank, den ungebügelten Wäscheberg. Ich schreib all das auch auf meine Todoliste. Aber wenn ich es grad mal schaffe mich anzuziehen oder zu essen, wie soll ich dann solche Aufgaben bewältigen. Und wieder einmal ärgere ich mich über mich selbst, dass ich nichts auf die Reihe kriege.

Alle Lichter der letzten Tage sind wieder erloschen, ich sitze im Dunkeln, umgeben von Dämonen, die ich nicht gerufen habe und gegen die ich keine Verteidigungsmaßnahme kenne, außer zu schreien: „ICH WILL DAS ALLES NICHT MEHR!!!“

In diesen Momenten hilft kein Trost (er ist ja eh noch bei mir) und keine Ablenkung (wozu soll ich was lesen oder stricken, hat eh keinen Sinn), auch kein Erfolgserlebnis (du kannst alles, du bist toll) – nichts. Nur das Wissen: ich muss das aushalten, bis es vorbei geht. Für mich. Für die Kinder. Für Richi. Für meine Familie.

Wie lange hält man das aus ohne daran zu zerbrechen?

Ich bin es leid, tagtäglich mich und meine Familie zu enttäuschen, weil ich wieder down bin.

Ich bin es leid außer atmen nichts zu schaffen.

Ich bin es leid ständig zu jammern und nix dran ändern zu können.

Ich bin es leid meine Zeit mit Löcher-in-die-Luft-starren zu vergeuden.

Ich bin es leid immer und immer wieder runterzufallen.

Ich bin es leid meine Reserven dafür aufbrauchen zu müssen um den Schein zu wahren, das es eh irgendwie geht.

Wozu lernt man sein Leben lang, wie man sich selbst motiviert und aufbaut, wie man Probleme löst und dass man immer eine Wahl hat, wenn man sich nur traut sich zu entscheiden – wenn nichts davon noch Sinn macht, wenn man es mal wirklich braucht?

Der Tag

Kalt, nass, einsam. Die Mieter fangen an abzuspringen, wer will es ihnen verdenken?

Die Frage einer Kundin, ob ich denn „schon alles verarbeitet hätte und ob es eh schon wieder besser geht“, macht mich sprachlos! Nach 6 Wochen? Ernsthaft? „Nein, es ist nichts besser, mein Mann ist immer noch tot!“ (ich sags nicht laut, sie meint es ja nicht böse). Wenigstens nimmt sie Wolle mit.

Ich würde so gern wenigstens am Geschäft wieder Freude haben, aber Corona, abspringende Mieter, fehlende Kunden, abgesagte Workshops und Handarbeitstreffen machen es nicht wirklich einfacher. Es ist frustrierend und ich frag mich ernsthaft, ob es nicht besser gewesen wäre, einmal auf alle anderen zu hören und nicht auf Richi. Sein „wir schaffen das schon“ beinhaltete halt ein „Wir“, das nicht mehr existiert.

Mittag

Der Lockdown lockt die Menschen her, sie decken sich gleich für länger ein. Das Geschäft läuft – und lenkt ab. Das ist gut, ich mag nicht mehr grübeln, verzweifeln, scheitern. Die Mittagspause wird stressig: Lucy möchte zum Mci, Susanne braucht die Unterlagen vom Auto, ich muss also auch noch in die SCS (PS: es war der Horror, in sein Büro zu gehen – obwohl Petra gleich mit mir mitgeweint hat)

Als hätt ich noch nicht genug heute, finden heut ständig Menschen in mein Geschäft, die sich sowas von daneben benehmen, das mir die Luft wegbleibt. Dank Maske sieht man meine entgleisten Gesichtszüge nicht.

War das „gehts eh schon wieder“ am Vormittag schon grenzwertig, toppte am Nachmittag eine Stammkundin alles mit: Das war aber nicht dein Mann, oder? Ach echt? Na, meiner ist ja vor 1 Jahr gestorben… (es fokgte 35min detaillierte Krankengeschichte, Familienstreitereien und der Tod der Oma inkl ausführlichen Bericht, wer wann wie die Parte bekam). Und den „tröstlichen“ Worten am Schluß: „Aber stell dir mal vor du hast jahrelang einen Pflegefall daheim!“ (da sie die Todesursache nicht erfragt hat, ist das wohl ein Satz, der immer passt in der Welt des Sensations-Smalltalks)

Da es mir jeden Tag anders geht, kann ich es nicht mit Sicherheit behaupten, aber langsam ist mein Limit erreicht. Meine Grenzen wurden definitiv schon weit überschritten. Die Frage ist nur, was kommt danach? Jenseits aller Grenzen und jeden Limits? Fällt man dann einfach um? Macht man einfach weiter? Stumpft man ab? Oder fängt man an zu schreien und hört nie wieder auf? Ich hab das Gefühl, ich werde es bald herausfinden.


Bleiben Sie dran und erleben Sie es hautnah mit. Und nicht vergessen: zum Glück bin ich kein sabbernder Pflegefall, den man wickeln muss. Und in ein paar Wochen ist eh alles wieder gut… [Sarkasmus wieder abschalten]


*seufz*