Die Kleinigkeiten sinds… (Tag 23)

Der Tag beginnt besch…eiden. Lucy kommt mit Halsweh und Schnupfen herunter und will nicht zur Schule. Erst versuch ich es verständnisvoll, am Ende weinen wir beide.

Ich muss sie hinbringen, den Bus hat sie verpasst. Das Auto ist kalt, alle Scheiben sind feucht, ich seh nichts, muss nochmal stehenbleiben, abwischen.

Ein Blick aufs Thermometer: 5°. Also wird wohl der Warmwasserboiler vom Womo sich selbst abgelassen haben. Sicherheitsmaßnahme. Ich hab das Womo noch nicht winterfest gemacht, ein weiterer Punkt meiner endlosen Todo-Liste. Ich kann das nicht, hab nie gut genug aufgepasst. Wer könnte mir helfen? Mir fällt niemand ein, der Richis Ansprüchen genügen würde.

Zu viel, alles ist zu viel. Während ich meine 13jährige zwinge weiterzumachen, fehlt mir jegliche Energie das Nötigste zu erledigen.

Die Kinder… ich muss mich um sie kümmern, für sie da sein, ihnen helfen. Ich kann es nicht, schaffe es kaum mich um mich selbst zu kümmern. Wie soll ich all ihre Bedürfnisse, ihre Trauer, ihren Schmerz erfüllen, auffangen, abfedern?

Jede reagiert anders, ich bin hilflos, weiß nicht, was das Richtige ist. Zwinge sie zu “normalem Alltag“, etwas, das mir selbst kaum gelingt.

Ich komme nicht mehr hinterher, flüchte mich in “unwichtige” Tätigkeiten, anstatt den normalen Alltagskram zu erledigen: Wäsche waschen, aufräumen, Geschirrspüler ausräumen… Die Belastungsgrenze ist längst überschritten.

„Hol dir Hilfe.“ „Sag, wenn du was brauchst.“ „Wir sind für dich da.“
Ja, das weiß ich, das ist mir bewusst. Ich weiß nur nicht, wie. Ich mein, Hausfrauentätigkeiten sollte ich ja wohl auf die Reihe kriegen! Ich will ja auch gar nicht, dass wer in meinem Haus herumfuhrwerkt, ich würde mich als absolute Versagerin fühlen, wenn ich Hilfe brauch beim Staubsaugen. Ich mag es nicht, wenn jemand diese Arbeiten erledigt und meine Sachen anfasst. Oder Richis… Das geht nicht.

Diese Hilfe ist für Dinge, die ich (noch) nicht kann: Womo fahren zum Beispiel. Gerhard und Brigitte organisieren mir einen Fahrlehrer. Ich freu mich irgendwie drauf.

Oder Unterstützung für Lucy finden. Meine Tante telefoniert Freunde ab, gemeinsam kriegen wir Lucy am Regenbogenhof unter – Trauerbegleitung mit Tieren. Da brauch ich Hilfe beim Fahrdienst. Solche Hilfe kann ich annehmen, bin dankbar.

Es gibt noch Ungeklärtheiten mit der Firma. Richis Chef kümmert sich darum, ich brauch da nichts zu tun.

Aber Haushalt? Hallo? Das ist ja wohl nicht der Rede wert. Ich schaffe all die ungewohnten, zusätzlichen Aufgaben, nur meine eigenen nicht mehr. Das ist paradox.
Geschäft, Haushalt, Kinder, Trauerarbeit, Autos, Womo, Renovierungen, Familie… Freizeit? Hobbys? Abschalten? Auftanken? Das bleibt völlig auf der Strecke im Moment. So viel zu tun, so wenig Energie.

Diskussionen wie heute Früh belasten mich enorm. Reagiere ich falsch? Müsste ich mehr auf Lucys Bedürfnisse eingehen? Lass ich sie zuviel allein? Oder muss ich strenger sein? Konsequenter? Ich weiß es nicht. Ich war immer der „gute Cop“ in unserer Elternkonstellation – wie soll ich jetzt gleichzeitig auch den anderen Part übernehmen?

Es sind die Kleinigkeiten, die mich / die uns völlig aus der Bahn werfen.

Eine morgendliche Diskussion mit der pubertierenden Tochter? Na und – schon hunderte Male geführt, wozu aufregen?
Und doch sind es genau diese Situationen, in denen ich nicht mehr weiß, wie ich reagieren soll, die mich zum Verzweifeln bringen, in denen dir auch niemand sagen kann, was richtig oder falsch ist. Erziehungstipps sind das Letzte, was ich gerade brauche.

Eine nicht aufgeräumte Küche? Egal, sieht ja eh keiner tagsüber, dann machen wir das halt abends schnell.
Sie beschäftigt mich den ganzen Tag und abends bin ich so müde, dass ich es nur unter Aufbietung aller Kräfte schaffe, das Geschirr wegzuräumen. Ich fühle mich als Versagerin, die gar nichts mehr schafft.
Dabei signalisiert die Welt doch täglich: “Das Leben geht weiter, nun komm endlich wieder zu dir! Ist doch eh schon über 3 Wochen her, langsam wirst du dich ja wohl dran gewöhnt haben!”


Nein, nicht meine Familie, nicht die, die mit mir trauern.


Niemand sagt so etwas zu mir, egal ob Freund oder Fremder. Sie alle tun einfach so, als ob das Thema abgehakt wäre. Sie verhalten sich “normal”. Klar, das ist einerseits gut – mit überbordetem Mitleid könnte ich eh auch nicht umgehen, das macht mich wütend. Keiner kann mit mir MIT-leiden. Trotzdem empfinde ich es immer wieder….überraschend (?), wenn Menschen ganz normal mit mir umgehen. Richi nicht mal erwähnen, ihn vielleicht gar nicht kannten, unseren Schicksalsschlag gar nicht wahrgenommen haben.
Steht das nicht in blinkender Leuchtschrift auf meiner Stirn eingebrannt? Sieht man mir das denn nicht an, dass ich am Boden bin? Die frühere Tradition der “Trauerkleidung” war vielleicht gar nicht so verkehrt – als Signal “Achtung! Ausnahmesituation!”.

Tage wie diese katapultieren mich wieder an die Stunde Null zurück, ich muss wieder mühsam von vorne beginnen. Mich wieder sammeln, aufraffen, zwingen weiterzumachen, Sinn suchen, tun.
Es ist so anstrengend, so ermüdend, so mühsam. Der ständige Wechsel zwischen guten und schlechten Tagen. Tageszeiten. Stunden. So aufreibend. So viele Gedanken, Arbeiten, alles durcheinander, alles Matsch.

Dazu kommen winzige Begebenheiten, die mich in Bruchteilen von Sekunden in eine “vertraute” Situation katapultieren – das kann ein Wort sein, in bestimmter Tonlage ausgesprochen, eine Umarmung der Kinder, eine Erzählung, ein Duft, ein Geräusch – und ich sehe Richi vor mir, wie er genau das tut, sagt, macht – und gleichzeitig, quasi als Überblendung über diesem doch so schönen Bild – erscheint die schrille Warnung im Kopf “NEIN! NIE WIEDER!”

Mittlerweile kommt auch das Gefühl dazu, dass die Leute denken: “Na geh, jetzt hatte sie schon 3 oder 4 gute Tage, warum ist es denn jetzt wieder so schlimm?”
Lucy hat das so formuliert: “Wenn ich so etwas schwieriges wie zur Schule gehen jeden Tag schaffe, glauben doch alle, alles ist wieder gut und nehmen keine Rücksicht mehr. Wenn ich lache, glauben alle, ich bin nicht mehr traurig.”

Heute sind wir wieder sehr traurig, sehr ratlos, sehr hilflos, sehr einsam. Heute ist kein guter Tag. Aber dafür hab ich ja Freunde und Familie und meine Freundin habe ich gerade um Hilfe gebeten. Wenn ich nichts kann – wenigstens habe ich das gelernt…

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