Tagsüber gehts…(Tag 20)
Ich habe das Gefühl mich zu arrangieren, ich tue, was zu erledigen ist, schaffe immer mehr selbst wieder, gehe arbeiten, koche, räume auf, kaufe ein, kümmere mich um Termine.
Ja, das klappt ganz gut. Es gibt immer wieder Momente, wo mich der Schmerz kalt erwischt, es ist wie „kotzen mit den Augen“, es lässt sich nicht zurückhalten oder unterdrücken, es muss raus.
Morgens stehe ich auf, wecke Lucy, bring sie zur Schule, räume auf, fahr ins Geschäft. Das alles kriegen wir quasi problemlos hin. Zu Mittag schnell heim, kochen, kuscheln, Aufgaben verteilen, zurück ins Geschäft. Der Nachmittag zieht sich, es ist kalt, finster, verregnet.
Ich fange an zu träumen: abends heim, Kuschelgewand, Wolle, Tee, Couch, einmummeln… Und dann kommt die Keule: DA FEHLT WAS! DA FEHLT WER!
Kuschelig auf der Couch einrollen? Ja, aber doch nicht ohne Richi, der neben mir liegt, fernsieht, mit mir redet, einschläft…
Ich verbanne das Bild, versuche mich abzulenken, chatte, spiele am Handy, stricke.
Es ist 18:00, ich fahr nach Hause, im Hinterkopf immer noch das Kuschelbild, ich krieg es nicht weg. Ich atme tief durch, gehe ins Haus, Lucy wartet schon. Ich schalte den Fernseher ein, er ist auf Richis Lieblings-Frühabend-Sender eingestellt. Zufällig. Seine Runterkomm-Serie läuft – die nächste Keule: Er wird das nie wieder sehen.
Ich schalte um, will das nicht sehen. Ertrage die Erinnerungen nicht. Neue Rituale? Dazu fehlt mir die Kraft. Ich sitze allein im Wohnzimner, Lucy ist in der Badewanne, Brendy noch in Wien. All die lieben Menschen, die seit Wochen um mich sind, sind daheim. In ihrer Kuscheloase, mit ihrem Partner, mit ihrer Familie. Mal abschalten, bisschen Alltag, mal nicht wieder und wieder die gleichen Geschichten hören. Vielleicht mal ein paar Stunden nicht an das Unfassbare denken. Sie können das, sie dürfen das, sie sollen das. Sie können ja Richis Platz nicht übernehmen.Ich beneide sie trotzdem.
Mit wem soll ich reden, wem von meinem Tag erzählen, plaudern, blödeln, träumen? Pläne schmieden, diskutieren, Rat holen? Wem soll ich von den vielen kleinen Gegebenheiten erzählen, mir seine Meinung dazu anhören?
Ich hab die Kinder, die brauchen mich. Ja. Als Gesprächspartner sind sie aber ungeeignet. Ich ertappe mich mit ihnen über Themen zu reden, die nicht für sie bestimmt sind. Das ist nicht ihre Aufgabe, nicht ihr Part. Ich höre wieder auf damit, das fühlt sich falsch an.
Ich rede. Den ganzen Tag. Mit meiner Mutter, meinen Schwestern, meinem Schwager, mit Freundinnen. Sie alle sitzen irgendwann zu Hause und berichten ihrem Partner von den Gesprächen. Wem soll ich davon berichten?
Tagsüber gehts… aber abends und am Wochenende ist jede Minute eine Qual. Immer dann, wenn Richi da sein sollte, da sein müsste. Ist er nicht. Wird er nie mehr sein. Nie mehr. Ein unvorstellbarer Zeitraum.
Ich starre das Foto an, sehe ihn vor mir, neben mir sitzen. Höre seine Stimme, nehme seine Bewegungen wahr. Und weiß: nichts davon wird je wieder so sein. Und ich verstehe es nicht. Verstehe nichts. Und gleichzeitig alles. Lasse diese Blitze der Erkenntnis nicht zu, schiebe sie weg. Die Wucht der Wahrheit wäre zu heftig. Ich versuche nicht auf das Foto zu schauen, dann läuft auch nicht die Dauerschleife im Kopf: Tot. Tot. Tot. Weg. Nie wieder. Niemals.
Aber mein Kopf spielt nicht mehr mit. Immer, wenn ich mich wieder ins Nichtverstehens geflüchtet habe, mir sage: Das kann nicht wahr sein, das ist nicht real, das gibt es nicht… DANN kriecht von hinten das Wissen herein, lässt sich nicht wegschieben, krallt sich in den Gehirnwindubgen fest, überzieht alles mit einem schmierigen Film, der alles abgleiten lässt, was nicht stimmt.
Tagsüber gehts, aber ich habe Angst vor dem Abend. Einer von unzähligen, in denen ich allein sein werde. Ohne Gegenüber, mit dem all die kleinen Alltagsdinge erst lebenswert sind.
Tagsüber gehts, und trotzdem wünsche ich mir jeden Morgen, dass der Tag schnell vorbei geht. Ein Tag ohne Dich, ein Tag geschafft, der mich wieder näher zu dir bringt. 24 Stunden Wartezeit abgehakt, 24 Stunden, in denen ich in Gedanken nur bei dir bin…