Sonst noch was? (Tag 48)

Nach davor…

Ja, das ist heute durcheinander – so durcheinander wie ich grad bin. Diesen Teil schreibe ich grad NACH dem Absatz „vorher“ und nach dem Absatz „nachher“. Warum? Weil ich es kann. Aber er gehört hierher an den Anfang und nicht ans Ende. Weil mir heute das Ergebnis wichtiger ist als der Weg.

Ich baue wie fast jeden Tag an meinem Kartenhaus, staple weiter „Katastrophen“ und „Unannehmlichkeiten“ obendrauf, ergötze mich an meiner Opferrolle, wie arm ich doch bin. Keiner versteht mich, keiner kann nachvollziehen, wie es mir geht. Am besten zieh ich mich ganz zurück und leide still…

Und dann, als es mir selber reicht, ziehe ich die Karte „Selbstmitleid“ und „Opfer“ aus dem Kartenhaus raus. Einfach so. Und das ganze Häuschen klappt zusammen. Alle Teile liegen bunt vermischt auf dem Tisch, bedeuten nichts mehr. Jede Karte, jedes „Drama“ ist genau so flach wie alle anderen, wie die „guten“ Karten, die schönen Momente. Alle sind gleich groß. Keine wiegt schwerer als die andere.

Es ist meine Entscheidung, mit welchen ich weiterbaue, es nochmal versuche – ob mit den bunten, farbenfrohen oder den dunklen, traurigen, die immer so rausstechen aus dem Häuschen. Niemand kann und niemand wird mir diese Entscheidung abnehmen – es ist ja auch mein Leben.

Ich nehme mir Zeit und sortiere meine Karten, die ich zur Verfügung habe. Welche möchte ich behalten, mit welchen möchte ich mein Häuschen nochmal von vorne aufbauen? Welche möchte ich nicht mehr einbauen? Mir wird relativ schnell klar, wie die beiden Stapel aussehen, wo welche Karte landet.

Ich spüre wie sich in mir wieder Kräfte reaktivieren, die ich schon immer in mir hatte, die ich auch immer wieder genutzt habe, wenns mal schwierig wurde.

Und noch etwas merke ich: es verschieben sich Sichtweisen, Ansichten, Einstellungen. Offenbar seh ich jetzt grad etwas mehr, seit das Kartenhaus meinen Blick nicht verstellt. Etwas weiter in die Ferne, nicht so aufs Haus fokussiert. Nur um einen winzigen Punkt, aber spürbar. Wie bei einem Baby, das anfangs auch nur 20cm etwas sieht und den Blick immer öfters scharf stellen kann und mehr entdeckt. Mehr wahrnimmt.

So, und nun kann ich (kannst du) mehr über den bisher chaotischen Tag lesen, wenn du magst – oder es einfach bei der Tageserkenntnis bewenden lassen. Es ist nicht wichtig – ich lass es nur für später stehen, damit ich auch in 1, 5 oder 10 Jahren noch weiß, wie ich dahin gekommen bin. Für heute hat es keine Relevanz.

Vorher

(8:30 morgens)

Ich hab wieder ein Gleichzeitig-Gefühl. Es ist mir völlig wurscht und ich habe Angst. Nein, nicht Angst vor Corona, sondern vor der völligen Isolation.

Lucy und ich sind in Quarantäne, registriert als K1 – Hochrisiko-Kontaktperson. Noch nicht getestet, aber abgesondert. Eingesperrt daheim. Isoliert von der Außenwelt. Bin ich das nicht längst? Ich sitz doch seit Wochen auf meiner einsamen Insel, auf die niemand Zutritt hat. Selbstgewählt oder ein natürlicher Trauerprozess? Ich weiß es nicht, ändern kann ich es momentan nicht.

Mit voller Wucht wurde mir gestern Abend klar, wie schmerzhaft mein bisher so dahingesagter Satz „ich hab halt keinen Partner mehr, mit dem ich solche Dinge dann bespreche, wenn alle anderen wieder daheim sind“ wirklich ist. Nach dem Anruf bei 1450 hab ich mich automatisch auf der Couch umgedreht um mit Richi die Situation zu besprechen.

Und da war niemand. Auch so etwas muss ich jetzt allein bewältigen. Bin angewiesen auf die Meinung anderer, wenn ich mir selbst unsicher bin. Muss bei unterschiedlichen Meinungen entscheiden ob ich mich der Mehrheit anschließe oder rebelliere. Hab keinen Rückhalt meines Mannes, auf den ich mich berufen kann.

Mit der Post kommt der Typenschein fürs Auto und ein Schreiben der VBV, ob der Herr Kalandra nicht seine Zusatzpension erhöhen möchte. NEIN MÖCHTE ER NICHT MEHR! Er ist nämlich seit fast 2 Monaten tot und braucht keine Pension mehr.

Mir platzt gleich der Schädel.

Nachher

(12:00 mittags)

UND NUN IST SCHLUSS!

Schluß mit Jamnern, hadern, Frust schieben, selbstmitleiden.

Ja, Briefe werden unüberlegt verschickt.

Ja, auf den Typenschein hab ich gewartet.

Ja, Lucy und ich sind jetzt erstmal daheim, aber wir sind gesund, haben essen und wenn wir wollen, genug Beschäftigung. Und wenn nicht gammeln wir herum – es sieht uns ja keiner, darf eh keiner rein.

Ich bin versucht den oberen Text zu löschen, aber das wäre unehrlich mir selbst gegenüber. Ich schreib das ja für mich, nicht um gut dazustehen.

Mir fällt ein, dass ich in meinem Leben schon zweimal für viele Tage isoliert war von allem, was mir wichtig war. Als kleines Kind, im Krankenhaus, hinter einer Glasscherbe weggesperrt. Mama und Papa nur kurz sehen, Trost mit Worten, die nicht ankamen. Ich erinnere mich, an das Gefühl, die Tränen, die Angst. Aber auch an den Spaß mit den anderen Kindern dort, das Teilen der geschickten Süßigkeiten, an Weintrauben. An liebe Schwestern, die sich kümnerten. An einen Freund, den ich dort gefunden habe – er war schon so groß und gescheit.

Ich knüpfe an an diese Erinnerungen, an die guten. Wer weiß wofür es gut ist? Schau ma mal. Das Leben hat offenbar beschlossen, dass ich wieder bereit bin mich mit Alltags-Widrigkeiten auseinanderzusetzen. Blöde Briefe, Quarantäne, Corona, falsche Preise in der Kassa. Sonst noch was?

Mein Sonderstatus scheint zu Ende zu sein, ich bin wieder eine von vielen. War ich vielleicht immer.

Es wird Zeit. Für den nächsten Schritt. Bald. Sehr bald. Bis dahin ziehe ich mich selbst aus dem Verkehr. Die Isolation kommt zur rechten Zeit. Keine Verpflichtungen.

Einen Tag in Jogginghose auf der Couch liegen und lesen? Warum nicht, sieht ja keiner.

Um 4:00 nachmittags anfangen etwas umzuräumen? Warum nicht, ich hab ja keinen Termindruck.

Abends stundenlang am PC arbeiten? Warum nicht, ich muss morgen ja nicht um 6:00 aufstehen.

Ich lese „Vier minus drei“ in einem Rutsch durch. Vor Jahren gelesen, aber nichts verstanden. Jetzt, beim zweiten Mal nicht nur Verständnis, auch Bestätigung all meiner Gefühle, auf und abs, Emotionen, Handlungen, Gedanken. Das beste Trauerbuch bisher – weil ich weiß, was diese Frau geschafft hat, kann ich auch. Ohne belehrenden Zeigefinger erzählt sie einfach, so wie ich hier erzähle. Und das hilft mehr als jedes Fachbuch.