Im Hier und Jetzt (Tag 34)

Morgengedanken

Es ist mir mittlerweile lieb gewordenes Ritual geworden, morgens, wenn es noch finster und still ist, hier zu schreiben. Im Prinzip ersetzt es das abendliche Gespräch mit Richi, wenn er heimgekommen ist.

Hier fühl ich mich ihm nah, hier erzähl ich ihm von meinen Gedanken, meinen Erlebnissen, meinen Gefühlen.

Hier kann ich formulieren, was ich oftmals im Gespräch mit anderen nicht aussprechen kann.

Hier sind nur wir beide. Und hier höre ich auch am besten seine Antworten, während ich meine Fragen stelle, denn hier kann ich meinen Kopf leer machen, damit Platz ist für seine Worte.

In der Esoterikwelt wird ganz oft betont wie wichtig es ist im „Hier und Jetzt“ zu leben. Ich hab das zwar immer versucht, aber eingebunden im Alltagstrott ist es oft schwer, Vergangenheit und Zukunft außer Acht zu lassen und den Moment zu leben. Wir Menschen sind so daran gewöhnt Pläne zu schmieden und Ziele zu erreichen, dass uns fast völlig die Gabe abhanden gekommen ist, die Gegenwart wertzuschätzen.

Ich hab es gelernt in den letzten Wochen. Ich kann nicht ändern, was passiert ist, es ist irrelevant, was wir hätten anders machen können – wir HABEN nicht, und nun ist es nicht mehr zu ändern. Es ist ebenso irrelevant, was ich mir für die nächsten Wochen und Monate vornehme, erstens weiß ich nicht mal, was morgen ist und zweitens kann ich nicht beeinflussen, wie es mir in ein pasr Stunden, Tagen, Monaten geht.

Natürlich nehm ich mir auch etwas vor, habe durchaus auch längerfristige Pläne, aber ich bleibe dabei flexibel. Wenns am geplanten Tag nicht geht, dann halt am nächsten. Oder nie, wenn es nicht wichtig ist. Ich sehe immer nur die nächste Aufgabe und wenn die erledigt ist, nehm ich mir einen weiteren Schritt vor.

Ich geh dabei auch nicht unbedingt logisch vor, sondern nach Priorität. Und packe das dann rund um vorgegebene Termine.

Richi hätte – wenn ich ihn je überreden hätte können, endlich zu renovieren und auszumalen – im Erdgeschoß begonnen und dort einen Raum nach dem anderen gemacht. Dazwischen wäre immer alles wieder ordentlich weggeräumt geworden, wenn man es tagelang nicht braucht.

Ich hab mit dem Wohnzimmer begonnen, weil seine Ecke für mich das Wichtigste war. Dann kam Luvys Zimmer dran, weil es danach die oberste Priorität hatte. Jetzt überleg ich mir, welcher Raum gerade wichtig ist für mich und mach den. Alles was ich dafür brauche, bleibt in Reichweite stehen. Dann schauts halt jetzt ein pasr Wochen hier aus – irgendwann sind wir fertig und dann ist es wieder schön. Die Welt geht nicht unter, wenn der Malerkübel in der Essecke steht, weil er dort am wenigsten stört. Und wenn ich zwischendurch doch mal das Gefühl habe, es steht mir zuviel Kram herum, dann räum ich ihn halt weg.

Irgendwie waren all meine früheren Pläne so ausgelegt: Wenn ich dieses und jenes geschafft hab und das alles fertig ist, leb ich glücklich und zufrieden bis an mein Lebensende…

Ich habe mittlerweile wirklich, wirklich begriffen, welch Blödsinn das ist. Erstens gibt es Projekte, die nie fertig werden, weil es entweder Wiederholungstäter sind (Haushalt, Renovierungen etc) oder weil man sie sich zwar ewig vornimmt, aber nie machen wird (alle Fotos sortieren und einkleben…), weil sie einem nicht wichtig genug sind. Sonst hätte man sie längst erledigt. Und zweitens hat man, selbst wenn man ein langfristiges Ziel erreicht, meist schon 3 neue im Blickfeld.

Es ist der Weg dorthin, die Arbeit an sich, die wichtig ist, nicht unbedingt das Ziel selbst. Wenn es mir Spaß macht stundenlang Fotos zu sortieren, dann habe ich meine Zeit JETZT gut genutzt. Wie schön und wunderbar das fertige Album dann ist, ist zweitrangig, weil man es eh selten herausholt und anschaut.

Ich hab früher schon immer lieber für andere gestrickt, weil mir das Stricken an sich viel Spaß macht und ich gern meine Zeit dafür verwende, der fertige Pulli interessiert mich meist herzlich wenig. Ist ein Kleidungsstück, nicht mehr.

Ich überlege also jetzt eher: womit/wofür mag ich meine Zeit nutzen? Was macht mir gerade Spaß? Wann bin ich zufrieden mit mir und meinem Tag? Das Endergebnis ist zweitrangig, man kann in einem Wohnzimner auch gut fernsehen, wenn auf der Decke 3 graue Tupfer sind, weil ich mit dem Pinsel abgerutscht bin.

All diese weisen Sprüche wie „Der Weg ist das Ziel“ oder „Erinnere dich an gestern, träume von morgen, aber lebe heute“ sind durchaus wahr, bleiben aber nur nette Sprüche, solange man sie nicht durch ein einschneidendes Ereignis wirklich begreift.

Richi hat mich in den letzten Wochen gelehrt, wie richtig sie sind – und wie man sie bewusst leben kann. Er hat das auch die Jahre davor selber praktiziert, aber da hab ich es nicht wahrgenommen. Er hat seine (Lebens)Zeit nie oder kaum je verplempert mit unnötigen Zeitfressern. Entweder er war produktiv um uns das Leben zu erleichtern oder zu verschönern. Oder er war müde, dann hat er geschlafen. Oder er hat sich mit einem Hobby beschäftigt,um seine Zeit schön zu gestalten. Aber nie mit einem Arsch auf drei Kirtagen, immer mit voller Konzentration auf eine Sache. Und zwar so konzentriert, dass er rundherum nichts wahrgenommen hat. Hat mich oft wahnsinnig gemacht, wenn er Computer gespielt hat und ich hab ihn was gefragt. Er hörte es nicht mal.

Unser, mein aktuelles „Projekt“ ist überleben, Tag für Tag, ohne ihn an meiner Seite. Dieses Leben lebenswert gestalten. Darauf konzentriere ich mich jetzt und hier – und zwar so intensiv, dass ich Fragen und Anmerkungen von außen oft nicht höre. Ich versinke völlig in meiner kleinen Welt, versuche den Anforderungen gerecht zu werden und die gestellten Aufgaben gut zu meistern.

Das ist GUTE Zeit. Keine gute Zeit ist es, wenn ich sie mit Was-wäre-wenn-Gedanken vergeude oder mit Sorgen um die Zukunft. Das eine ist nicht mehr zu ändern, das andere ändert sich ständig. Ich versuche soviel wie möglich gute Zeiten zu haben.

Denn eines ist mir klar geworden: für Richi ist es mittlerweile bedeutungslos, was er mit seiner Lebenszeit gemacht hat, für die, die zurückbleiben, ist es wunderbar und immens wichtig die Gewissheit zu haben, dass er viele gute Zeiten hatte. Und so wird es auch für mich einmal bedeutungslos sein, ob ich meine Zeit verplempert habe oder sie gut war, aber für die, die weiterleben, ist es tröstlich, sagen zu können: Ja, sie hat gut gelebt, sie hat ihre Zeit genutzt.

Denn das ist das Einzige, was wir hier auf diesem Planten wirklich besitzen – unsere Lebenszeit. Wieviel wir davon haben, weiß keiner, was wir damit machen, liegt allein in unserer Hand. Alles andere können wir erwerben, verlieren, kaputt machen, verschenken und vermehren. Die verfügbare Lebenszeit aber ist uns mit der Geburt vorgegeben und wird nur weniger, niemals mehr. Also sollten wir sie nutzen, jede Sekunde davon – und zwar JETZT und HIER.

Heute

Immer noch bringen mich Kleinigkeiten völlig aus der Fassung. Ich kann ohne mit der Wimper zu zucken ganze Räume umstrukturieren und dann seh ich Richis Voltadolsalbe im Wohnzimmer herumstehen – zack, das ganze Kartenhaus bricht zusammen. Die braucht er nicht mehr. Mich hat immer gestört, dass er sie nicht weggeräumt hat – nun steht sie da seit Wochen unberührt und niemand verwendet sie.

Ich nutze diesen Schlag ins Gesicht, um aufzuräumen. Heute wird nix renoviert, heute wird fertiggestellt, geräumt, erledigt, was ewig schon auf der Todo-Liste steht. Papiere wegsortieren, bügeln, staubsaugen, Küche aufräumen (da wohnen grad mehr Minkerl als es Einwohner in Österreich gibt), Womo ausräumen… Ordnung machen hat heute oberste Priorität. Warum, weiß ich nicht, ich akzeptiere einfach, was mir mein Gefühl sagt.

Nachmittag

Alles ordentlich, alles wegerräumt, gekocht, gebügelt, gesaugt, Waschmaschine läuft. Ich hab Kopfweh das die Hälfte gnua warat und gönne mir eine Zwangspause. All die schlauen Gedanken und Einsichten vom frühen Morgen sind wie weggeblasen.

Ein paar Facebookerinnerungen von den Herbsturlauben der letzten Jahre haben mir für heute den Rest gegeben.

Vorher bin ich schon ausgerastet, nachdem ich gefühlt 100x vom 1. Stock in den Keller gelaufen bin, irgendwas runter- oder raufbringen. Eine schwere Glasplatte war das Auslöser, ich hab geflucht, geschimpft und geschrien – und dann mit Lucy eine Runde geweint, weil alles so doof ist.

Richis Gemecker fällt mir ein, wenn er irgendwas vom Keller holen musste: Warum ist dieses Haus so groß, können wir nicht in eine kleine Gemeindewohnung oder ins Womo ziehen?

Ist also heute eine sehr wackelige Normalität, droht imner wieder zu kippen, aber bis jetzt konnte ich das noch verhindern. Aber grad fehlt mir jegliche Lust und Motivation für irgendwelche Arbeiten. Nichts tun ist leider momentan auch keine Option. Ich hab das Tagespensum zu schnell erledigt und häng jetzt in der Luft.

Später

Ein gutes Essen und ein Nickerchen später ist alles wieder ein wenig besser. Ich glaube, ich möchte für mich jetzt ein neues Ritual…

…ok, offenbar hat Richi beschlossen, dass im Finstern alleine daheim sitzen jetzt keine optimsle Beschäftigung für mich ist. Eva hat grad überraschend angerufen und gefragt ob ich in einer Stunde zum Blank mitgehen mag. Mein erster Gedanke war „danke nein, was soll ich dort?“, mein zweiter war „joa, mal rauskommen ist nicht schlecht“. Manchmal ist der erste Gedanke doch nicht der Beste, ich geb mir einen Ruck und geh raus.

Habt einen feinen Abend. ❤️