Die 9. Woche
63 Tage, 1512 Stunden… Zahlen, nur Zahlen. Ob 9 Wochen, 9 Stunden, 9 Jahre – mir fehlt nach wie vor jegliches Gefühl für Zeit. Immer wieder switche ich in Bruchteilen von Sekunden zu anderen Zeitfenstern, stehe wieder im Krankenhaus, bereite die Verabschiedung vor, rufe die Rettung. Diese Zeitreisen in eingebrannte Erinnerungen finden ausschließlich in Zeiten ab dem 18.9. statt. Wo ich sekundengenau alles noch einmal durchlebe, jeden Satz wiederhole, jede Bewegung nochmal mache – und nicht das kleinste Wort ändern kann.
Die anderen Erinnerungen sind diffuser, nicht so detailliert und weniger greifbar. Sie überfallen mich ebenso unvorbereitet und in den unmöglichsten Situationen, beim Öffnen einer Küchenlade, beim Ausräumen eines Nachtkasterls, beim Fernsehen am Abend. Erinnerungen an unser Leben, unseren Alltag, an Urlaube, an Nichtigkeiten. Die sind schmerzhafter, so absurd das klingt.
Wir spielen immer noch „Richi ist da und muss Zeichen schicken“, ich fordere immer mehr, immer offensichtlichere, freue mich über jedes, um gleich danach daran zu zweifeln, ob ich mir das nicht alles einbilde.
Die Zeit, die ich jetzt durchlebe, ist ziemlich schwammig und ohne Konturen. Nicht die Trauer und der Schmerz der ersten Tage und Wochen, kein gefestigter Glaube an das „Gute“, kein „ich hab mich damit abgefunden und mich in meiner neuen Welt eingerichtet“, aber auch kein totales Verzweifeln. Nichts Ganzes, nichts Halbes.
Irgendwie so wie der Nebel heute. Kalt, feucht, undurchsichtig, mit vielen Schatten und der Ahnung, dass da trotzdem etwas dahinter ist. Dem Wissen, die Bäume und Häuser und Menschen sind trotzdem da, auch wenn ich beim Blick aus dem Fenster nichts sehe. Gleichzeitig der Gedanke: „Bist du dir ganz sicher?“
Mein momentaner Ansatz ist „Beschäftigung um jeden Preis“. Ich male, ich putze, ich räume, ich sortiere, ich stricke, ich schau Serien, erledige Arbeiten am PC, verschicke Formulare, hake Listen ab… So, dass ich abends sehr sehr müde bin, körperlich und geistig. Ich möchte grad nicht viel nachdenken und grübeln. Ich versuche das Haus gemütlich zu gestalten, es kuschelig zu machen, damit wir uns wohlfühlen. Aber meist geht es um die Beschäftigung an sich, nicht um das Endergebnis. Ja, eh schön, aber ziemlich egal. Es geht ums Fertigstellen, erledigen und abhaken – wieder was, um das ich mich nicht mehr kümmern brauch. Dass das meiste davon dann auch noch gut aussieht, ist eher Kollateralschaden denn Zielsetzung. Ist schwierig zu erklären.
Das Vorzimmer ist wieder eingeräumt und ein bissl hergerichtet. Und schon sitz ich wieder und starre in die Luft, zum Glück steht heute noch einiges am Programm. Schlafzimmer abbauen, einkaufen, im Geschäft vorbeischauen, Bestellungen verschicken – und ich bin jetzt schon müde.
Diese jetzige Traurigkeit ist irgendwie viel schwerer, belastender – und sie geht nicht weg, egal, was ich tue. Ob ich was mach, was irgendwie Spaß macht oder einfach nur etwas erledige, was halt grad ansteht – es ist egal. Wie ein Hintergrundrauschen ist sie immer da. Anfangs waren es mehr so Schübe, die mich überfallen haben – aber nach einer Runde Weinen war es danach meist ein bisschen leichter. Jetzt fehlen die Tränen, und ich hab das Gefühl, dass sich das alles immer mehr auftürmt und staut. Dagegen tun kann ich auch nichts.
Am Freitag ist mein 51. Geburtstag, der erste ohne Richi. Das ist prinzipiell nicht so tragisch, ich hab meine Geschenke oft genug schon viel früher bekommen: wenn ich sie entdeckt habe (Gewand im Urlaub) oder wenn sie neu auf den Markt kamen (neues Handy Anfang November) oder wenn grad Geld da war (Handarbeitszimmer im Februar). Der Tag selber war oft gar nichts Besonderes mehr, wir sind weder Essen gegangen noch haben wir großartig miteinander gefeiert. Trotzdem wusste ich nicht, was ich heuer mit dem Tag machen sollte. Feiern? Daheim verstecken? Gar nichts? Alles?
Der Tag symbolisiert für mich jetzt auch mehr den ersten Tag eines neuen Lebensabschnittes. Bis 50 war ich glücklich, zufrieden, normal. Dieses neue Lebensjahr werde ich erstmal ohne meinen Partner verleben müssen, werde alles alleine machen müssen. 51 Jahre – und er wird an keinem der Tage meines 52. Lebensjahres mehr dabei sein.
Bis Richi sich neben mich setzte und mich fragte, warum ich so herumeiere. Natürlich sollte ich den Tag feiern, zu Mam und Paps essen gehen, meine Freundinnen und Kinder einladen (alles im Coronamodus natürlich). Sein Geschenk käme ja eh am 27. in der Früh – die neue Couch, um die ich solange gebeten habe. Und ich soll mich also nicht so anstellen. Es würden ja nur die obligatorischen Blumen fehlen (aber ich glaub, auch daran arbeitet er schon – da fangen neue Orchideen an zu blühen).
Das war so überzeugend, dass ich schon wenige Minuten später alles in die Wege leitete und alle einlud. Fertig, wieder was erledigt. Ich freu mich nicht auf meinen Geburtstag, aber ich freu mich riesig, dass sich die anderen so darüber freuen – weil ich das schön finde.
Ich möchte trotzdem nicht 51 werden, ebenso wenig wie ich möchte, dass das Jahr 2020 jemals endet. Ich möchte nicht aus diesem Jahr „rausgehen“, in dem er noch gelebt hat, in dem er noch DA war. Ich möchte für immer in diesem Jahr bleiben. ich möchte nicht sagen müssen „mein Mann ist voriges Jahr gestorben“. Ich finde es furchtbar, mich immer weiter von ihm zu entfernen, von unserem gemeinsamen Leben.
Nachmittag – wir haben ein paar Dinge im Geschäft erledigt und wieder mal einen Einkauf geschafft. Ja, seit der Christstollen-Kauf-Aktion geht es besser, aber ich bin nicht die einzige, der das Thema Einkauf an die Nieren geht. Lucy meinte heute, das war so schön, als Papa noch da war, den konnte man um ein Suppenpackerl schicken und er kam mit 2 vollen Sackerl Leckereien wieder, über die wir uns immer freuten. *seufz* Wird uns wohl noch länger begleiten, das Thema.
Jetzt zerlegen wir mal das Schlafzimmer, mal schauen, wie es mir dann geht. Es ist kein wirklich „schlechter“ Tag heute, aber von gut bin ich leider auch weit entfernt.
Das Schlafzimmer ist abgebaut und unter dem Bett hab ich noch Teile von der Rettung gefunden. Jetzt reichts mal wieder. Aber es sieht ganz hübsch aus, Bett in der Ecke quer, Nachkasterl daneben, viel Platz.
Die Woche
Der Bericht der Vorwoche war ja nun weit positiver und energiegeladener und wenn ich mir meine Tagebucheinträge anschaue, hat das bis Freitag/Samstag auch ganz gut geklappt. Seit her ist wieder mal ein bisschen Ball flach halten angesagt. Ich mache zwar dasselbe wie vorher, es kostet nur weit mehr Energie. Der Sonntag war extrem mühsam und energieraubend, nun gehts langsam wieder bergauf. Zum Glück sind die Abstürze nicht mehr ganz so tief wie zu Beginn, von daher geht es auch schneller wieder mit den „Geht-eh-scho-Zeiten“.
Ich habe auch meine Leselektüre etwas geändert. Las ich bisher über MEIN Leben danach (nach 3-4 Büchern kennt man so ziemlich jeden Aspekt über Trauer), habe ich jetzt mit solchen über Richis Leben danach begonnen. Das fing an, als ich vorige Woche beschlossen hab, dass er jetzt gefälligst da ist und da bleibt, dann wollte ich wissen, wie man Kontakt aufnimmt und was andere dabei so erlebt haben.
Im Prinzip sind alle diese Bücher aber mehr Bestätigung des Selbsterlebten denn neues Wissen aneignen. Aber es tut ganz gut zu lesen, was andere erlebt haben und glauben – man fühlt sich dann nicht mehr ganz so bescheuert. 😉
Seither „passieren“ übrigens auch manch komische Dinge im Haus, Geräusche aus Räumen, wo niemand ist, knacksen von Elektrogeräten, die nicht eingeschaltet sind, die Zahlen tauchen als Signale wieder vermehrt auf. Da aber Lucy sie auch hört und sieht weiß ich wenigstens, dass ich mir das nicht einbilde und „herbeiwünsche“.
Ein Beispiel: Gestern Abend erzählte mir Lucy von einem Wunsch, der alle Geburtstags-, Weihnachts-, Jubiläumsgeschenke sprengt. Ich hab ihr erklärt, dass das nicht drin ist, egal, wie ich es drehe und wende. Das hat sie auch eingesehen. Ich sagte dann noch: „Red mitn Papa, vielleicht fällt dem was ein und er kann was machen.“ Sie war logischerweise skeptisch.
Heute früh sind am „Spendenkonto“ 100€ eingegangen, obwohl dort seit Mitte Oktober nichts mehr dazukommt. Die reichen zwar immer noch nicht mal annähernd, aber als Zeichen, dass Richi sich dahinter klemmt, um sein Baby glücklich zu machen, kann man sie schon mal sehen, denk ich. Warum sonst sollte jemand nach 2 Monaten auf die Idee kommen, noch etwas zu spenden?
Was hab ich sonst noch geschafft? Essecke ausgemalt und dekoriert, Vorzimmer ausgemalt und hergerichtet (Lucy meint, es sieht nach Italien aus), Schlafzimmerschrank entsorgt und Bett umgestellt, Notar erledigt, zig Dokumente und Zettel irgendwo hingeschickt, weil irgendwer noch irgendwas haben will, Homeschooling, Tierstunde, Homeoffice erledigt, von der Weste fürs Schaufenster Rücken und einen Vorderteil fertiggestrickt.
Abends kann ich schon ganz gut mit Tee und Apfelzimtherzen und Wolle Serie gucken und es mir gemütlich machen. Tagsüber schaff ich es meist mich länger auf anstehende Arbeiten zu konzentrieren und auch Sachen wirklich fertig zu erledigen.
Was noch nicht so gut geht: Einkaufen (obwohl schon besser), einen ganzen Tag gut drauf bleiben (oder mehrere hintereinander), gscheit essen (oder wenigstens mehr), Freude an fertigen Arbeiten empfinden, mir merken wem ich was schon 3x erzählt habe…
So, genug für heute – Couch, Tee und „Melinda Gordon“ warten auf mich
Bussi
Bina