Die 8. Woche

Eigentlich wollte ich hier eine tägliche Zusammenfassung schreiben, damit man quasi nachlesen kann. Ich habs gelöscht, was schon hier stand – ich sehe keinen Sinn darin, die vergangenen Tage nachzulesen. Sie sind ja vorbei und ob ich jetzt am Donnerstag traurig und am Samstag gut drauf war, spielt keine Rolle mehr.

Bleiben wir also lieber im Hier und Jetzt – wieder mal. Einen Tag nach dem anderen, akzeptieren was gerade ist – und ich selbst nicht ändern kann, nicht zu viel erinnern und nicht zu viel vorausdenken.

Doch, ich habe viel gelernt in den letzten 8 Wochen, auch wenn ich nicht das Gefühl hab, dass ich mich wesentlich geändert habe. Ich ärgere mich nach wie vor über Nichtigkeiten, bin ungeduldig, wenn was nicht gleich klappt und chaotisch wie eh und je.

Obwohl… ganz stimmt das auch nicht, wenn ich auf die Details achte: ich ärgere mich kürzer, werde nicht gleich übertrieben hysterisch bei Herausforderungen und irgendwie krieg ich doch jedes Mal die Kurve, bevor das Chaos überhand nimmt.

Ich bin grad eingebettet in einer „guten“ Zeit, ich hab keine extremen Traueranfälle, weine nicht (mehr) täglich und schaff es manchmal schon, positive Aspekte bei einer Sache zu sehen.

Lockdown, der Zweite

Beim ersten hatte ich einen Mann und kein Geschäftslokal. Jetzt hab ich keinen Partner mehr, dafür aber einen Laden, den ich schließen musste.
Ich muss alle Homeschooling-Aufgaben übernehmen, die wir uns im Frühjahr geteilt haben – Zettel scannen, drucken und an der richtigen Stelle wieder hochladen war Richis Job. Ich hatte damals eher die „Nachhilfelehrer“-Funktion.
Also hab ich mir heute Früh als erstes die Aufgabe vorgenommen, das Büro endlich so nutzbar zu machen, dass ich zwar Richis Sachen nicht alle wegpacken muss (mag ich noch nicht), aber überall rankomme und Platz habe. Den Drucker/Scanner hab ich mittlerweile halbwegs im Griff – sogar, als mein PC nach einem Update meinte, er kenne keinen Drucker namens Epson, bin ich nicht nervös geworden, sondern hab eine Lösung gesucht (und gefunden).

Um nicht nicht wieder wie im Frühjahr im Drama-Chaos zu versinken, haben Lucy und ich gestern beschlossen, eine gewisse Routine beizubehalten und eine Art Tagesplan zu erstellen. Vormittags Schule, Arbeit, Erledigungen, Termine, nachmittags Freizeit, renovieren, faulenzen.

Ganz hat es heute noch nicht geklappt, das lag aber eher an den Lehrern, die erst am Nachmittag die Aufgaben herausrückten. Ansonsten sind wir gut im Rennen, Lucy hat ihre Hausübungen erledigt, die Schweinchen ausgemistet und das Schlafzimmer wieder begehbar gemacht (war noch Abstellraum von der Räumung ihres alten Zimmers). Ich hab das Auto in die Werkstatt gebracht, war im Geschäft Ware abholen für eine Kundin, hab aufgeräumt, Werbung fürs Geschäft gemacht und eine Weste fertig zusammen genäht.

Ich bin guter Dinge, das wir das hinkriegen. Ich hab genug Projekte, an denen ich arbeiten kann, damit mir nicht die Decke auf den Kopf fällt. Ein „Gespräch“ mit Richi vor wenigen Tagen tut sein übriges.

Ich saß abends mal wieder nur blöd vorm Fernseher und „schaute“ mir irgendeine Doku an, die mich nicht interessierte. Da hatte ich das Gefühl, das er plötzlich neben mir auf der Couch saß und mich fragte, was ich da tue.

Ich versuche das Gespräch mal wiederzugeben (ist nicht wortgetreu, aber vom Inhalt passt es ungefähr):

Warum strickst du nix?
„Weil ich mich nicht konzentrieren kann.“
Warum nicht?
„Öhm, weil du mir fehlst?“
Dann lass doch endlich zu, dass ich bei dir bleiben kann.“
*hier verwirrten Blick einsetzen*
„Aber du bist nicht mehr hier, ich hab das doch eh schon akzeptiert. Das nutzt nur halt nix, ich bin traurig und alleine. Und es wird nie wieder so sein wie es war.“
Stimmt, aber wenn du es nicht jedes Mal in Frage stellst, ob ich bei dir bin oder doch nicht, würdest du dir leichter tun.
„Ja eh, aber wenn ich jetzt einfach sag – juhuu, mir gehts prima, mein Mann ist eh immer bei mir und wir habens lustig – liefern sie mich bald irgendwo ein.“
Was interessiert dich das, was die anderen denken? Die leben ja nicht unser Leben. Ich bin da – zumindest der Teil von mir, der das darf – und ich geh nicht weg. Wir haben uns versprochen, für immer und ewig – und ewig hat grad erst angefangen.
„Und was jetzt weiter? Was soll ich jetzt tun? Ohne dich macht das doch alles keinen Spaß mehr, ich will dieses Leben nicht.“
Jetzt richten wir mal dein Leben ein bisschen netter ein. Als erstes dreh die fade Doku ab und schau dir was an, was dir gefällt. Deine Serien, die ich nicht nochmal sehen wollte zum Beispiel. Fang mit „Ghost Wisperer“ an.“
„Aber sonst gehts noch? ich schau mir jetzt sicher keine Serie an, wo die Hauptdarstellerin ständig mit Toten spricht und ihnen hilft, ins Licht zu gehen…. OH…“
Als nächstes wirst du dich wieder deinen Hobbys widmen, es macht nämlich keinen Unterschied, ob du sitzt und schaust oder sitzt und handarbeitest oder liest oder sonst was tust. Also es ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht mehr körperlich da bin – aber es ändert was an deinem Leben.“
„Hmm, schon, aber… na gut, ich probiers mal…“


Seither ist Richi „da“, wann immer ich eine Frage habe oder Hilfe brauche. Es funktioniert nicht jetzt plötzlich alles reibungslos, aber zumindest fällt mir für alles eine Lösung ein und dann klappts auch. Ich handarbeite wieder regelmäßig (also sobald ich die Hände frei habe 😉 ), ich freu mich auf abends, wenn ich Serie weiterschauen kann, ich habe (hatte) wieder ein bisschen mehr Spaß im Geschäft zu sein, hab dort auch alles weihnachtsdekoriert – und auch das war schön. Ich folge völlig meiner Intuition (oder Richis Eingebungen), wenn ich etwas tue oder plane. Und wenn diese Stimme sagt: „Worauf wartest du, bestell die Mulde!“ oder „Dreh den PC auf und such eine Couch, die dir gefällt und dann bestell sie.“ – dann mach ich das, ohne es groß zu hinterfragen. Würde ich anfangen zu überlegen, hätte ich zum Beispiel die neuen Verordnungen abgewartet und dann überlegt, ob das jetzt gut oder blöd ist. Oder ich wär doch nochmal in die Möbelhäuser gefahren um mir verschiedene Sofas anzuschauen und probezusitzen. Jetzt hat die ganze Aktion cirka 20 Minuten gedauert und wir haben keine Ahnung, was wir da kriegen. Grau. Eckig, sieht kuschelig aus. Wird schon passen.

Lockdown? Geschäft zu? Keine Umsätze? Joa, und weiter? Geschäft zu heißt, ich muss nicht um halb neun in der Früh das Haus verlassen. Umsätze mach ich auch so, ich hab Stammkunden, die trotzdem bestellen und um den Rest „kümmert“ sich Richi – er schaut auf, dass immer genug Geld da ist.

Nein, das ist kein „Mir-doch-egal“-Gefühl, sondern ein bisher nie gekanntes tiefes Vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hat und genau so sein soll. Ich fühle mich geborgen und beschützt – und ganz ehrlich: selbst wenn ich mir das nur einbilde – es fühlt sich GUT an. Ich hoffe wirklich von Herzen, dass diese sanfte Welle noch länger anhält und nicht gleich nach wenigen Tagen wieder übergeht in eine schmerzhafte Trauerwelle.

Klar hab ich trotz allem 1000 Momente am Tag, wo eine Erinnerung auftaucht, ein Bild, ein Geruch, ein Gedanke und ich traurig davon werde. Aber selbst diese Momente sind gut so wie sie sind. Ich möchte nicht einen davon missen, jeder Nadelstich ist wie ein spürbares Zeichen.

Und – auch klar – hab ich Momente, wo ich Angst habe vor 3 Wochen Isolation ohne soziale Kontakte (oder halt sehr wenige), wo die Abende endlos lang und leer werden und die Tage öde und trüb sind. Wo ich mir vorstelle, wie muckelig gemütlich alle anderen jetzt mit ihrer Familie daheim eingekuschelt sind und miteinander reden, lachen… Wo ich traurig bin, dass Richi diese Zeit nicht mehr erleben durfte, wo er daheim sein hätte dürfen.

Das dauert aber immer nur ganz kurz, denn dann flüstert er mir zu, dass die anderen das vielleicht gar nicht so genießen, sondern sich angiften wegen unsinniger Kleinigkeiten und dass er doch jetzt für immer daheim bleiben darf und gar nicht mehr raus muss und dass wir es eh sehr gemütlich und kuschelig haben.

Sie werden wieder kommen, die Wellen der Trauer und der Verzweiflung und des Schmerzes – vielleicht nicht mehr so extrem wie anfangs, aber um nichts weniger intensiv. Aber eines weiß ich mittlerweile: auch sie ebben wieder ab. Und es ist wesentlich einfacher, sich auf eine Luftmatratze zu schmeißen und jede Welle voll und ganz mitzusurfen als sich dagegen zu stemmen und jedes Mal fast abzusaufen. Sie sind da und ich muss mit ihnen leben, ob ich will oder nicht. Also nutz ich lieber die Guten zum Weiterkommen und die Traurigen zum Verarbeiten der Tatsachen.

Ich hab euch alle furchtbar lieb und bin sooo froh, euch zu haben: meine Familie, meine Kinder, meine Freundin. <3