Dann mach ich den Scheiß halt allein (Tag 19)…

Vor 3 Wochen starb mein über alles geliebter Mann völlig überraschend und unvermutet.

Heute starte ich das Projekt „dann mach ich den Scheiß halt allein“. Heute ist einer der „guten“ Tage. Zumindest bis jetzt, aber es ist auch erst 9:00, da ist also noch Luft nach oben.

Wir wollen die Wand im Wohnzimmer streichen, wo seine Musikbox und seine Urne steht. Er soll es ja hübsch haben. 

Das ganze Haus muss dringend ausgemalt werden und irgendwo muss man ja anfangen. Die Wand ist klein und die Arbeit überschaubar, das sollte zu schaffen sein.

Ich klebe alles ab, so wie ich es bei ihm hunderte Male gesehen hab. Gemacht hab ich es noch nie, ich war immer nur Hilfsarbeiterin.

Alles? Nein, ich hab den Türrahmen vergessen. Ich vergesse ständig etwas, seit er beschlossen hat, diesen Planeten zu verlassen. Manchmal ganze Tage, manchmal nur was ich kochen wollte.

Ich spachtle die Löcher zu – auch eine neue Arbeit. Klappt ganz gut. Glaub ich.

Ich habe viel vor – und gleichzeitig nichts. Wozu und für wen auch? Was macht noch Sinn? Worauf soll ich warten? Was kann für mich noch kommen, auf das es sich zu warten lohnt?

Und dann kommt wieder der rebellische Moment: Dann mach ich den Scheiß eben allein, ich schaff das! Ich renoviere das Haus, entlaube den Garten, lerne WoMo fahren und führ mein kleines Geschäft zum Erfolg. Ich zieh meine Kinder groß und…. Und dann fällt mir wieder ein: er ist tot, nicht mehr da, es gibt niemanden mehr, der stolz ist auf mich.

Lucy hilft, weil sie auch etwas tun will. Wir malen mehr oder weniger hilflos an der Wand herum.

Einzelne Sätze fallen mir ein:

„Erst die Kanten beschneiden, dann gleichmäßig malen.“

„Des scherngelt, da muss man 2x drübermalen.“

„Zieh ordentliche Schuhe an, wenn du auf der Leiter stehst. Bei dir stehen 2 auf der Leiter: du und die Angst.“

Ich hab das Gefühl, er steht daneben und schaut uns zu, gibt Tipps und würde uns am liebsten den Pinsel wegnehmen.

„Tja, Schatz, das geht nun nie mehr, du wirst damit leben müssen, dass wir nicht mal ansatzweise den Anspruch erheben, an deine Perfektion heranzureichen.“

Du hast immer gesagt: „Es kostet die gleiche Zeit etwas halbherzig oder gleich ordentlich zu machen.“

Ich konnte dir da nie zustimmen, „gschwind“ geht einfach schneller – man ärgert sich nur länger über das Ergebnis.

Die erste Wand ist ausgemalt. Sie war so fleckig und grindig, wir müssen sie trocknen und nochmal drüberstreichen. So wird es wohl nun bei vielen Dingen sein – wieder und wieder muss ich von vorne beginnen, nochmal „drübermalen“.

Mein Bild der Welt, mein Bild meines Lebens muss neu gemalt werden. Ich möchte das nicht, halte fest an unseren Plänen und Zielen, an Alltagsritualen und Gewohntem. Aber es gibt keinen Halt mehr, nichts zum Festhalten, alles rutscht mir durch die Finger, entgleitet meinem Verstand.

Immer und immer nehme ich den Pinsel zur Hand, versuche „mein“ Bild des Lebens, UNSER Bild wieder herzustellen.

Das geht nicht, deine Hand fehlt, die den Pinsel führt. Ich hatte die Visionen, du hast sie umgesetzt. So war es immer.

Und nun sind da die Visionen, Pläne – und ich muss sie alleine umsetzen. Ich möchte das nicht, es macht keinen Spaß alleine. Ich möchte keine Pläne mehr machen, wozu auch? Niemand weiß was morgen ist. Ob es ein Morgen gibt. Schon in einer Stunde kann jedes Kartenhaus zusammenbrechen. Jedes einzelne Leben ist nichts als ein wackeliges Kartenhaus.

Es gibt nur eine einzige Garantie auf der Erde – es ist die einzige, die jeder Einzelne von uns ignoriert und für sich selbst als nicht gültig ansieht.

Klar können Menschen sterben – aber doch nicht du oder ich!

Das Wohnzimmer sieht aus, als wären die Russen einmaschiert. Überall liegt und steht etwas herum, wir haben nicht die Konsequenz wie Richi, alles sofort wegzuräumen, was nicht mehr gebraucht wird. Hatten wir, hatte ich nich nie. Jetzt ist es noch schwieriger, ich kann mich kaum länger auf etwas konzentrieren. Springe von einer Tätigkeit zur nächsten, mache alles, wie es mir gerade einfällt.

Gerade erschien es mir unendlich wichtig, diesen Blog zu beginnen, also hab ich ihn angemeldet und gestartet.

Jetzt kann ich mich wieder um die Wand kümmern. Und aufräumen. Vielleicht. Wer weiß schon, was in einer halben Stunde ist…

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