Objektiv betrachtet…(Tag 37)

Morgengedanken

Der Kopf ist leer, die alltäglichen Handgriffe am Morgen laufen automatisch ab – das ist gut. Das beruhigt. Ich habe gestern das erste von (wahrscheinlich) vielen Büchern zum Thema Trauer gelesen. Nein, es war keine Offenbarung und es war sicher nicht das Beste, aber ich konnte damit meinen Verstand „füttern“ und der war dann in der Lage, einige Dinge einzusortieren. Die kleinen Männchen, die seit Wochen mit Zetteln in der Hand durch meinen Kopf hetzen, haben endlich die richtigen Schubladen gefunden, wo sie ihre Informationen ablegen können. Fürs Erste kehrt ein bisschen Ruhe ein.

Ich mag es, mir ungewohnte „Themen“ von vielen Seiten zu betrachten, zu verstehen, was da im Kopf abläuft, wie etwas „funktioniert“. Das für mich wichtige und begreifbare filtere ich aus all den Informationen heraus und baue mir daraus meine eigene Sicht auf die Dinge.

Bisher bin ich rein nach Gefühl gegangen, ohne zu wissen, ob das, was ich tue, nicht tue, denke und fühle „normal“ ist oder eher selten und ungewöhnlich. Ich hatte vorher nie (oder kaum) Kontakt mit dem Thema Tod und Trauer, unsere Familie ist erstaunlich gesund und langlebig. Also hatte ich auch keine Ahnung, was da alles passiert und wie das abläuft. Ich hatte zuvor noch nie einen toten Menschen gesehen und war bisher sehr selten auf Begräbnissen. Behütet, aber unvorbereitet.

Es war beim Lesen schon sehr faszinierend zu erkennen, dass dies ein offenbar automatisierter Prozess ist, so wie Kinder kriegen, wo man ja auch vorher nicht üben kann und keinerlei Vorstellung von den Schmerzen bei der Geburt hat, egal wieviele Menschen einem davon erzählen – und trotzdem weiß der Körper, was zu tun ist. All die Emotionen, Reaktionen, Gedanken – sie scheinen immer ziemlich gleich zu sein. Es unterscheidet sich nur, wie man damit umgeht – und hier habe ich offenbar intuitiv die ganze Zeit das „Richtige“ getan.

Es wird empfohlen zu schreiben, zu reden, sich Zeit für sich zu nehmen, offensiv um Hilfe zu bitten – mach ich alles längst., ohne das es mir wer gesagt hat. Und es war gut, dass ich bisher keine Bücher oder Internetseiten dazu gelesen habe, sonst hätte ich jetzt nicht das Gefühl, einfach auf mein Bauchgefühl gehört zu haben. Ich würde mich immer fragen ob ich auch ohne Literaturwissen so gehandelt oder ob ich etwas anders gemacht hätte.

Jetzt ist es mehr eine Bestätigung für mich, alles gut gemacht zu haben.

Was mir bei dem Buch „Alleine weiterleben – wenn der Partner stirbt“ nicht gefällt, sind die ständigen Wiederholungen, dass „es vorbei geht“, dass „der Schmerz und die Trauer und die Sehnsucht nachlässt“. Vielleicht ist es einfach noch zu früh für mich, aber das glaub ich einfach nicht. Denn der Verlust des Partners ist eben nicht wie eine Geburt, wo es ein Ende der Schmerzen inklusive einzigartigem Geschenk und Happy End gibt. Das Geschenk hatte ich vorher und das Happy End ist am 22.9. gestorben.

Was mir gut gefallen hat, war die „wissenschaftliche“ Erklärung für mache Dinge, zum Beispiel, was es so schwierig macht, den normalen Alltag zu bewältigen und was die Psyche so maßlos überfordert:

Alltag

Das Hirn legt für jede Tätigkeit Bahnen an, Straßen quasi. Wird eine Tätigkeit oft wiederholt, entsteht mit der Zeit daraus eine Autobahn. So muss man sich nicht mehr konzentrieren auf solche Gewohnheiten (zB Autofahren, anfangs wird jeder einzelne Ablauf bewusst durchgeführt, spöter denkt man nicht mal dran, den Blinker zu setzen, man tut es einfach). All die Alltagsverrichtungen wie einkaufen, aufräumen, gemeinsam aufstehen, Essen kochen etc sind nach vielen gemeinsamen Jahren tiefe Furchen, richtige Highways im Gehirn. Und von einer Sekunde zur anderen sind aus diesen lang befahrenen Autobahnen Sackgassen geworden, die keinen Sinn mehr ergeben. Nun muss das Gehirn fast das komplette Straßennetz neu anlegen und bewährte Automationen einreißen und löschen.

Psyche

Stell dir vor es ist Silvester und du nimmst dir vor im nächsten Jahr jede Woche Sport zu machen oder abzunehmen oder Nichtraucher zu werden. Eine einzige Gewohnheit abzulegen oder abzuändern erfordert große Konzentration, eisernen Willen und Durchhaltevermögen. Und diesen Schritt hast du freiwillig gewählt!

Ich bin gezwungen von jetzt auf gleich hunderte Gewohnheiten gleichzeitig abzulegen/zu ändern – und ich will das nich nicht mal. Ich kann aber nicht mal sagen: „Na gut, diese Woche lass ich den Sport aus, nächste Woche dann aber wieder.“
Die Psyche und das Gehirn arbeitt rund um die Uhr auf Hochtouren um diese Leistung hinzukriegen, sucht nach Schlupflöchern (nur ein Keksi, dann wird weiter abgenommen), die es nicht gibt, versucht Zeit zu schinden (man muss ja nicht jede Woche 2kg abnehmen, dann dauerts halt länger, macht ja nix), die es auch nicht gibt oder den „Plan zur Veränderung“ aufzugeben (ich fang zu Ostern noch mal an, Nichtraucher zu werden), was ebenfalls unmöglich ist.

Fazit zum Buch

Ich versuche unvoreingenommen zu lesen und Sätze, die wie eine Ohrfeige wirken (jede Witwe glaubt, ihre Beziehung sei etwas Einzigartiges gewesen, das nie jemand zuvor so erlebt hat) unter „zu früh, da denk ich später drüber nach“ abzulegen und sie nicht direkt als „so ein Blödsinn“ abzuhaken. Anderes kann ich annehmen und als „ah, das ist also ganz normal“ ablegen, wie zB das Gefühl hinterhersterben zu wollen, keinerlei Sinn in irgendwas zu sehen, nicht aus der ersten Trauerphase rauszuwollen oder Tätigkeiten wie schreiben, renovieren und aufräumen „müssen“. Das macht es für mich leichter, nicht auch noch jedesmal zu zweifeln und zu hinterfragen ob ich überhaupt noch ganz dicht bin.

Womit ich rein gar nix anfangen kann (aber das hab ich ja gestern schon erwähnt) ist die offenbar „normale“ Reaktion der Familie und des Umfeldes wie Rückzug, Unverständnis, unbewusste Verletzung und Ungeduld – da bin ich eher die, die sich Gedanken macht, ob ich meinem „Campingplatz-Zaun“ nicht langsam am Geist gehe, weil ich nur über Richi und meine Trauer rede (jaja, ich weiß, ist nicht so – die Gedanken tauchen trotzdem imner mal wieder auf). In dem Fall bin ich offenbar wirklich etwas Besonderes – weil ich von absolut besonderen Menschen umgeben bin.

Der Tag

Irgendwie hat mich die „objektive“ Beschäftigung mit dem Thema Trauer und Verlust heute ruhiger gemacht, gelassener, gefasster.

Ich hab schon aufgeräumt im Geschäft, Wolle sortiert und an meiner Auftragsarbeit weitergestrickt. Es fehlt zwar imner noch die ursprüngliche Freude daran, aber zumindest tu ich was. Der Tag wirkt irgendwie normal, Kunden kommen und werden beraten, Claudia kommt und bringt ein Herzensgeschenk.

Die Gedanken kreisen heute mal nicht um „mein Schicksal“, sondern eher um das Thema an sich, weitgehend losgelöst von Gefühlen und Emotionen. Ob ich das gut finde, weiß ich noch nicht.

Kathi ruft an, weil Visa zu blöd ist korrekte Aussagen zu tätigen und die Karten richtig zu verwalten. Es wär ihnen jetzt eingefallen, dass sie das Geld nun doch gleich haben möchten und nicht in die Verlassenschaft melden können. Macht nix, liegt eh am Sparbuch, erledigen wir gleich. Und dann fällt mir ein, dass ich damit nun den letzten Sommerurlaub bezahlt habe…

Diese G’nackwatschn kommen immer so plötzlich, die können einem echt den Tag versauen. Aber ich glaub, heut ist ein „Heute-Nicht“-Tag, ich lass mich nicht umschubsen. Nicht heute. Zumindest nicht bis zu Mittag…

In der Gemeindepost steht Richis Name heute bei den Verstorbenen. Das ist so dermaßen absurd, dass mein Hirn es nicht begreifen kann. Das muss eine Verwechslung sein. Ich mein, man liest die Namen ja immer, besonders wenn das Alter in der Klammer noch sehr jung ist, aber mein Mann in dieser Liste? Vielleicht gehört der rauf zu den Hochzeiten oder so? Ich krieg keine Verbindung zusammen, weder emotional noch logisch. Diese Zeitung muss noch ein Überbleibsel der früheren Welt sein, wo man mal kurz die Todesanzeigen überflogen hat, ob man wen kennt, aber nichts, was in der Alles-Anders-Welt irgendeine Gültigkeit oder einen Wert hat.

Der Nachmittag beginnt wieder zäher zu werden. Komisch. Morgens, vormittags und abends komm ich ganz gut zurecht, aber die Nachmittage gestalten sich schwierig. Warum das so ist, hab ich noch nicht rausgefunden. Es legt sich eine düstere Schwere über mich, mein Denken und Tun. Nicht mal die letzten Seiten des Buches geben Trost, ich find grad keinen Zugang zu den Informationen, find sie blöd und unpassend.

Lucy wird abgeholt und verbringt die nächsten Tage bei ihrer Kusine. 3 Tage gehören jetzt mir allein. Ich bin offen für diese neue Erfahrung und (freudig) gespannt, wie es sein wird. Zeit und Ruhe nur für mich. Angst hab ich keine davor, ich war auch früher ganz gern mal allein. Aber es ist wie es ist – wieder mal steht ein „zum ersten Mal ohne Richi“-Ereignis an und wenn ich eins bisher gelernt hab, dann das selten etwas so ist wie ich es erwartet habe.

Zum Glück entwickelt sich der spätere Nachmittag durch ein bisschen Kundschaft noch halbwegs normal und nicht ganz so düster deprimierend wie gestern oder vorgestern. Könnte doch noch ein guter, normaler Tag werden. Wie der Abend wird, werden wir sehen, ich werde berichten.