Richi nimmt mich an der Hand (Tag 36)
Morgengedanken
Gestern hab ich lange mit Kathi telefoniert, da kam das Gespräch auch darauf, dass der Mensch (ich) sich wahnsinnig schnell anpassen kann, dass der neue Alltag ziemlich flott 22 Jahre WIR überdeckt und alltägliche Erinnerungen dämpft.
Sie fragte mich, ob ich das gut oder doof finden würde. Meine spontane Antwort war: Beides gleichzeitig.
Wenn ich eine unumstößliche Tatsache akzeptiere, hab ich auch die Chance wieder nach vorne zu schauen und (vielleicht) irgendwann ein lebenswertes Leben zu führen.
Andererseits WILL ich aus dem anfänglichen Schock-Trauer-Zustand gar nicht heraus, weil ich da dem geliebten Menschen noch so nah war, er war noch greifbar. Mit nur einmal Augen schließen konnte ich mich direkt in mein normales Leben zurückbeamen.
Beide Gefühlswelten und „Wünsche“ existieren gleichzeitig, was manchmal extrem verwirrend und anstrengend ist. Ich konnte aber auch nicht konkret sagen, welche Phase, welcher Zustand mir „lieber“ ist.
Und dann saß ich abends da so rum, „freute“ mich auch meine Bücherbestellung und konnte es kaum abwarten, endlich zu lesen, was es zu all den Themen und Fragen zu sagen gibt. Ich wollte es „erforschen“, sehen, wie andere vor mir damit umgehen und leben, herausfinden, ob das, was ich intuitiv mache, gut oder eher kontraproduktiv ist.
Die besten „Ergebnisse“ erziel ich ja meist, wenn ich nicht groß nachdenke, sondern einfach tue, was mir grad einfällt (eingegeben wird?).
Mir fiel ein, dass ich am Handy ja einen Kindle installiert habe und suchte dort nach E-Books zum Thema Trauer. Gleich der erste Titel sprach mich an, Leseprobe heruntergeladen – und dann hätte ich am liebsten jede einzelne Seite fotografiert und in meine Lieblingsmenschen-Gruppe gepostet. Ja. Ja! JA! Genau so ist das!
Das war kein Buch, wie man seine Trauer „bewältigt“ und möglichst schnell hinter sich bringt. Es geht darum, dass der „Normalzustand“ nie wieder hergestellt werden kann, was kaputt ist, bleibt kaputt.
Es geht nicht nur um die Trauer um den Menschen, man verliert viel mehr – gemeinsame Gegenwart, gemeinsame Ziele, gemeinsame Erinnerungen, sich selbst.
Und hier hatte ich nun meine Antwort – es ist keine Entweder-Oder-Entscheidung, sondern ein Sowohl-als-auch. Es geht nicht darum die Trauer hinter sich zu lassen und fröhlich neue Wege gehen – ebenso wenig wie die Alternative, im Schockstadium feststecken und gar nichts mehr tun, eine erwägenswerte Möglichkeit darstellt. Ich muss beides miteinander kombinieren, die Trauer und die Lebensfreude, den Schmerz und die Hoffnung… Es gibt keinen 5-Schritte-Plan, den man durchlaufen muss und dann ist wieder alles gut. Nichts wird jemals wieder „gut“. Das würde sich die (westliche) Kultur wünschen, um sich ja nicht zu lang mit dem Thema Tod und Trauer beschäftigen zu müssen. Aber wenn man mir den Fuß amputiert, werde ich nie wieder einen nachkriegen und auch nie wieder unbehindert laufen können. Ich kann mit einer Prothese einen Ersatz schaffen und mich mit viel Disziplin wieder halbwegs normal bewegen – der Fuß ist und bleibt aber weg. Mir wurde ohne Betäubung mein Lebensinhalt, mein Partner, mein Herz amputiert – das wird einfach nie wieder „gut“. Ich kann nur lernen es zu akzeptieren und mit dieser Beeinträchtigung zu leben.
Für mich ist diese Erkenntnis der erste Wegweiser, der aus dem Nebel auftaucht, seit ich in der Alles-Anders-Welt herumirre. Und, so merkwürdig das klingt, es ist ein tröstlicher Wegweiser. Ich „muss“ Richi und unser gemeinsames Leben gar nicht ÜBERWINDEN oder ZURÜCKLASSEN, um weiterzuleben, ich muss/darf es in mein neues Leben integrieren. Ich fina (fand) es die ganze Zeit furchtbar, dass ich die Trauer bearbeiten, bewältigen, überwinden, hinter mir lassen sollte – sie ist und bleibt Teil meines Lebens. Warum? Auch diese Antwort fand ich in der Leseprobe: Weil Trauer die wildeste, brutalste Form von Liebe ist – und jeder, der liebt, sich irgendwann damit auseinandersetzen muss. Der Schmerz ist wichtig, würde man ihn wegdrücken, ignorieren, verarbeiten – was bliebe dann noch von dem geliebten Menschen übrig außer ein paar Erinnerungen an gemeinsame Urlaube?
Es gab nur einen Punkt, der bei mir absolut nicht zutrifft: dass der Trauernde sich nicht verstanden fühlt von seinem Umfeld, dass die, die Helfen wollen alles falsch machen würden – bei diesen Passagen wurde mir klar: ICH HAB DAS BESTE RETTUNGSTEAM AN MEINER SEITE DAS ES GIBT! ❤️
In der ersten Phase intuitiv ausgewählt möchte ich keine meiner „Mädels“ missen und niemanden hinzufügen. Dass es genau 5 sind, wundert mich jetzt auch nicht wirklich, die Zahlen fünf und zwei sind ja untrennbar verknüpft mit all dem hier. Bei mir sind es die Fünfer, Richi bevorzugte die Zweier. Wenn man die Zahl 2 auf den Kopf stellt, sieht sie aber eh wie eine 5 aus.
Ich war richtig traurig, als die Leseprobe zu Ende war, da ich aber immer noch lieber ein Buch in Papierform in der Hand halte, hab ich mir nicht das ganze E-Book gekauft, sondern das echte bestellt. Gestern Abend waren genau diese Worte für mich wichtig und die hab ich bekommen. Auf diesen paar Seiten fand ich mich so oft selbst wieder, erkannte, dass ich das meiste ohnehin gefühlsmäßig schon (richtig) mache und das alles richtig ist, wie es ist. Den Rest lese ich jetzt dann in Ruhe.
Der Tag
Ich fahre ins Geschäft und wieder überfällt mich die Sinnlosigkeit der dort vergeudeten Zeit. Es gibt glaub ich zur Zeit keinen Ort, an dem ich einsamer bin. Aber auch das gehört dazu.
Ich bin immer noch beflügelt davon, endlich wieder lesen zu können und mir auch zu merken, was ich da lese. Und wie ich so vor mich hin sinniere, fällt es mir plötzlich auf: Ich kann ALLES tun, solange es einen Bezug zu Richi hat!
Ich kann lesen, handarbeiten, renovieren… Aber nicht einfach irgendwas!
Ich kann keinen Liebes- oder Horrorroman lesen – Themenbücher funktionieren aber super.
Ich kann all die Renovierungsarbeiten durchführen, die ohnehin geplant waren – ich kann aber nicht in seinem Büro oder Werkzeugkamnerl herumräumen.
Ich kann keine Tätigkeit mehr aufnehmen, die ich im Normalleben vor Richis Tod begonnen habe, dieses Leben gibt es nicht mehr und damit haben all diese Dinge ihren Sinn verloren – aber ich kann meine Fertigkeiten neu definieren und ihnen einen neuen Sinn geben.
Ich kann keinen Pulli für mich stricken – aber einen Stimmungschal!
Was ist ein Stimmungsschal? Für jeden Tag stricke ich 1cm in einer bestimmten Farbe, die meine Stimmung wiederspiegelt. Nach 1 Jahr hab ich einen 365cm langen Schal, der das erste Jahr repräsentiert. (Die Quersumme aus 365 ist übrigens 5, nur mal so…)
20cm erschien mir als passende Breite – und dass 10cm genau 22 Maschen sind – wunderts wen? Für mich sind das kleine Zeichen aus der Anderswelt, mit denen Richi mir zeigt: Passt, Message angekommen, du tust das Richtige!
Ich hab mir sofort die passende Wolle rausgesucht (zum Glück bin ich im Geschäft und hab genug Auswahl ?) und losgelegt, immerhin muss ich 35cm nachholen. Und es klappt, ich brauche weder bei der Farbwahl noch beim Muster überlegen, das strickt sich von selbst. 7cm hab ich schon.
(An dieser Stelle: Danke, mein Schnuffelbär, dass du es schaffst zu mir durchzudringen und mich führst. Ich verspreche weiterhin auf alle Zeichen zu achten und weniger zu grübeln und stattdessen mehr zu fühlen. Ich liebe dich über alles!)
Mittags – ein Knick
Während ich so vor mich hinstricke, lass ich meine Gedanken schweifen. Ich lebe jetzt in einer Welt, umgeben von vertrauten Menschen, Gegenständen und Handlungen – die keinerlei Bedeutung mehr für mich haben. Rundherum geht alles seinen gewohnten Gang und zwischen mir und dieser Welt ist eine Glasscheibe, durch die ich zear durchsehen kann (und auch gesehen werde), an der ich aber nicht mehr teilhaben kann. Und es auch gar nicht will.
Ich möchte auf meiner Insel sein, umgeben von den Trümmern meines früheren Lebens, Erinnerungen, Bildern, Gefühlen.
Ich möchte mir daraus eine neue Welt aufbauen, zu der nur ein ziemlich kleiner Kreis Menschen Zugang hat. In der es nur mehr für mich wertvolle und sinnvolle Menschen und Gegenstände gibt.
Ich möchte in dieser „Blase“ leben, in der Richi für immer meine wichtigste Bezugsperson bleibt und seinen Platz an meiner Seite hat.
Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob etwas richtig oder falsch ist, weil diese Maßstäbe aus einer Welt stammen, zu der ich keinen Zugang mehr habe und die für mich bedeutungslos sind – so, als wären sie in einer fremden Sprache definiert.
In meiner Welt gelten nur meine Regeln, Gesetze und Freiheiten. Diese Freiheit nehm ich mir. Jedem steht es frei, diese Welt nicht zu betreten oder wieder zu verlassen, weil es zu emotional, zu schwierig, zu unverständlich scheint. Das ist ok, ich hätte vor 2 Monaten solch eine Welt auch nicht freiwillig betreten. Nun lebe ich aber darin. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute.
Mag sein, dass ich damit eine Barriere schaffe, über die man irgendwann nicht mehr so einfach drüberkommt oder durchdringt, dass ich Menschen vor den Kopf stoße, die es doch nur gut meinen, dass ich Erlebnisse verpasse… Aber Richi und ich haben es immer schon genossen, in unserer kleinen kuscheligen Welt ohne viel Außenkontakt zu leben, auf unserer Insel der Ruhe und des Friedens. Das Womo war unser idealer Rückzugsort: klein, kompakt, inmitten anderer am Campingplatz und trotzdem für sich. Wir waren uns genug – und daran ändert sich für mich auch nichts, nur weil ich ihn nicht sehe oder spüre.
Mein kleiner Kreis an Vertrauten ist dabei mein Zaun rund um den Campingplatz – zur Welt da draußen. Sie mag ich gern in meiner Nähe haben, sie geben mir Wärme und Geborgenheit. Vielleicht möchte ich eines Tages den CP verlassen, einen Ausflug machen, weiterreisen.
Momentan genügen mir die paar Quadratmeter im „Womo und im Vorzelt“. Alles andere ist mir zu viel, all die Anforderungen, Alltagserledigungen, Nebensächlichkeiten. Es kostet soviel Kraft, jeden Tag aufzustehen und „normalen“ Tätigkeiten nachzugehen. Mir ist klar, dass ich sie trotzdem erledigen muss, funktionieren muss, weitermachen muss.
Nun, ich schaffe mir als Ausgleich meinen Campingplatz, meine Insel, meine eigene Welt, meinen Rückzugsort. In dem ich gar nichts „muss“, nur sein.
Aus dem Knick wird ein Bruch
Sie kommt imner unerwartet und plötzlich, nichts deutet sich an, kein Ereignis löst sie aus. Ohne Vorwarnung ist die da, lässt sich weder abschütteln noch verdrängen noch Schönreden. Sie lähmt. Sie zieht alles in Zweifel. Sie wiederspricht sich selbst. Sie stellt alle vorher gedachten Gedanken und Erlenntnisse in Frage und lässt sie lächerlich erscheinen.
Die Trauer.
Da ist sie wieder, gemein, hinterhältig und schmerzhaft. Sie macht alles kaputt, was ich mir mühsam aufbaue. Im Geschäft ist nichts los, daheim sitz ich allein herum (Lucy ist mit einer Freundin unterwegs). Ich sollte mich freuen, Lucy hat ganz allein für uns gekocht. Stattdessen wein ich in die Spagetti und höre Richi, wie er sagt: „Spetti gehn immer.“ Alles ist doof, ich will mir die Decke über den Kopf ziehen und nix mehr sehen, hören, fühlen. Die Sonne scheint, aber mir ist kalt. Nichts passt mehr zusammen. Alles ist falsch. Ich mag nicht mehr. Das ist zu viel. Alles ist zu viel und gleichzeitig zu wenig.
Ich leg mich hin und schlaf eine halbe Stunde, vielleicht gehts dann wieder. Susie holt Lucy zur Tierstunde (die wegen Ferien gar nicht stattfindet, was uns aber keiner gesagt hat), ich fahre wieder ins Geschäft. Sitze, wasche Teehäferl ab, räume um, berste Kunden, plaudere. Ich funktioniere wieder.
Es wird schon finster, obwohl es noch nicht mal fünf ist, ich mag heim. Vielleicht sind meine Bücher schon da. Ich mag in meine Miniwelt, weg von der kalten, großen, unverständlichen Welt.
Heut mag ich nicht mehr, nichts mehr. Morgen dann wieder. Vielleicht.