Der nächste Schritt (Tag 35)

Morgengedanken

Gestern Abend war ich traurig, sehr traurig. Wir waren ja ein bisschen draußen, beim Heurigen mit Freunden, haben dort ganz alltäglich geplaudert und uns unterhalten. Als wir wieder heimkamen, kam ich mir noch verlorener, noch einsamer vor als je zuvor. Stundenlang lag ich nur im Wohnzimmer auf der Couch, hab abwechselnd das Bild oder die Decke angestarrt und nichts getan.

Eine Gleichgültigkeit hatte mich lahm gelegt – eine Sinnlosigkeit für alles, was ich tue oder nicht tue. Es ist doch völlig egal ob ich das Haus renoviere oder so weiterlebe wie bisher, ob ich esse, schlafe, arbeite… Nichts davon gibt mir Richi zurück. Und ohne ihn sah ich keinen Sinn darin überhaupt weiterzumachen.

Ich erzählte davon, dass wir – im Gegensatz zu Richi – die Möbel nicht mehr alle festschrauben. Michi meinte, das sei aber wichtig, weil wenn so ein Regal umkippen würde und auf mich drauffällt… Ich lächelte nur und dachte mir: Schön wärs. Bitte ein schweres..

Ich schrieb dann noch einen Text, den ich aber so nicht veröffentlichen wollte (und es dann doch tat, kommentarlos: Wusstest du…) Und ging schlafen…

Heute Morgen war diese Traurigkeit genau so präsent wie am Abend, ich fürchtete mich schon ein wenig vor einem anstrengenden und langen Tag. Und dann ließ ich alle Erwartungen los und mich führen.

Ich lass die Freitagsgedanken von Traude Trieb auf Facebook, die ihren Seelenpartner wenige Tage vor mir verlor. Ich konnte damit nichts anfangen, sie sind mir „zu positiv“.

Ich suchte im Internet nach Themen wie „Trauer“, „Partner verloren“, „Trauerbewältigung“ und ähnlichem. Ohne groß nachzudenken klickte ich mal hier und mal dort auf einen Link, las hier ein paar Zeilen und dort ganze Berichte, erfuhr von verschiedenen Therapieformen und stolperte über einen Satz:…ich empfehle das Buch blablabla..

Hallo? Ich, die hunderte Bücher gelesen habe, die zu fast jedem Thema die passende Lektüre daheim hat, die sich unendliches Wissen selbst angelesen hat – ich komm nicht auf das Naheliegendste der Welt: hol dir Bücher zum Thema Trauer..

Amazon geöffnet, „Trauer“ als Suchbegriff und Bücher wie jeher nach Intuition und Bauchgefühl ausgewählt und bestellt.

Ich wusste zwar die ganze Zeit, dass ich weder zu einer Einzel- noch einer Gruppentherapie gehen möchte und „niemanden brauche, weil ich kann das alles allein“, aber eine Alternative fiel mir auch nicht ein. Jetzt freu ich mich, sie gefunden zu haben – lesen ist schön, lesen hilft mir zu verstehen und Bücher geben mir die Möglichkeit in meinem Tempo Wissen und Ratschläge aufzunehmen und Dinge, die für mich (nich) nicht passen zu überspringen.

Beim Überfliegen der Buchbeschreibungen und einiger Beiträge im Internet merkte ich, wie ich es endlich zuließ zu sehen, dass ich nicht die Erste und die Letzte bin, die den Verlust des geluebten Partners durchlebt. Dass es eigentlich nicht mal was Besonderes ist, sondern ziemlich alltäglich. Dass es wissenschaftlich erforschte Phasen gibt, die jeder dabei durchlebt – und dass die zeitlich und in der Reihenfolge zwar individuell sind, im Prinzip aber immer gleich bleiben.

Ich erkannte, dass ich bisher nichts falsch gemacht habe, dass der Rückzug in meine eigene kleine Welt für mich wichtig war (und ist – ich hupf jetzt sicher nicht wie der Schlupfkasperl aus der Kuste und alles ist gut), dass es aber ebenso wichtig ist, sich irgendwann mal vorsichtig von der Illusion „nur ich und sonst niemand auf dieser Welt hatte so einen einzigartigen, besonderen Partner an seiner Seite“ zu lösen und ihn ein wenig realistischer in Erinnerung zu behalten – als einen Menschen, den ich über alles geliebt, über den ich mich aber auch mal geärgert oder den ich manchmal nicht verstanden hab. Nicht falsch verstehen, er war in seiner Art zu sein schon ziemlich perfekt und einzigartig – aber er war auch ein ganz normaler Mensch mit Ecken und Kanten. Mir geht es auch nicht darum ihn plötzlich schlecht zu machen – das wäre ja dann wieder ein Extrem, das nicht richtig wäre – sondern Richi in seiner Gesamtheit in Erinnerung zu behalten, ohne ihn auf einen nicht erreichbaren Thron zu setzen und zu verherrlichen.

Man kann nicht mit etwas abschließen und je wieder nach vorne schauen, wenn man aus dem geliebten Menschen einen makellosen Heiligen macht, an den nie jemals jemand heranreichen kann. Das würde implizieren, dass man selbst so klein und unbedeutend ist, dass man alleine ohnehin nicht überlebensfähig ist und es gar nicht probieren braucht.

Gestern Abend hatte ich zum ersten Mal den Gedanken „na Gott sei Dank brauch ich solche Diskussionen nimma führen“, als es beim Heurigen um irgendwelche Renovierungsarbeiten ging und die beiden sich nicht einig waren.

Zum ersten Mal sah ich einen „Vorteil“ in meinem neuen Leben – und war schockiert über mich selbst. Hallo? Ich hab grad meinen Seelenmenschen verloren und erkenne Vorteile??? Bin ich noch zu retten? Ich denke: ja, bin ich! Gerade WEIL ich mich nicht festklammere an das Traumbild „perfekt und einzigartig in alle Ewigkeit“, sondern die Möglichkeit zulasse, dass es ganz vielleicht irgendwann einmal ein Leben für mich geben kann, in dem ich dankbar bin für die gemeinsame Zeit und alles, was Richi mich je gelehrt hat, in dem ich aber auch selbstbestimmt und zufrieden leben kann. Vielleicht. Irgendwann.

Fürs Erste genügt es mir, mir Wissen anzueignen mithilfe von schlauen Büchern. So wie früher auch, wenn ich etwas Neues lernen wollte. Schau ma mal. Und wenn mir nicht gefällt, was da drin steht oder ich es nicht verstehe, kann ich immer noch allein herumwurschteln.

Lucy hilft mir da sehr bei der Relativierung, einfach weil sie Dinge „braucht“, die da sind und von Richi nicht mehr gebraucht werden (wie ein Laptop zum Beispiel, ihrer ist alt und in seinem Büro stehen drei herum). Ich würde rein aus Pietätsgründen nix davon angreifen, weil es seine Sachen waren und er so extrem heikel darauf war. Aber in Wirklichkeit hat sie recht – die werden nicht besser durchs Herumstehen und für ihn haben solche Gegenstände keine Bedeutung mehr. Wir ergänzen uns dabei auch sehr schön, um ein gesundes Maß zu erreichen – ihr sind andere Gegenstände und Besitztümer wichtig als mir. Dadurch bleibt die Entscheidung darüber, was bleibt, was selber verwendet wird und was wegkann in einer firtlaufenden Bewegung und die Gefahr, aus dem Haus ein Museum zu machen, besteht gar nicht.

Der Tag

Ich kämpfe mich (mit Pausen) durch Dokumente sortieren, Zettel wegräumen, Telefonate erledigen, mit Kathi quatschen, Computer miteinander verknüpfen, für Lucy einen geeigneten Laptop suchen. Es ist schwierig, muss aber auch gemacht werden. Ab- und Ummeldungen müssen erledigt werden, Dinge angesehen, eh sie weggepackt oder aussortiert werden. Es ist nicht leicht in Richis Sachen zu „stierln“. Ich hab das Gefühl seine Privatssphäre zu verletzen, auch wenn ich eh alle Passwörter und Zugänge kenne.

Mittags fragt Kim ob ich den Nachmittag übernehmen könnte. Es ist nix los und sie hat heut keinen guten Tag. Lucy nickt verständnisvoll, als ich ihr sage, dass ich ins Geschäft muss. Sie kennt gute und nicht gute Tage sehr gut. Zu gut.

Jetzt wird es langsam finster, ich sitz hier neben dem Kamin, mampf Apfelzimtherzen und langweile mich. Irgendwo am Weg ist mir die Liebe zu meinem Geschäft und meiner Wolle abhanden gekommen, was ich schade und merkwürdig finde. Aber ich kann mich nicht aufraffen etwas umzusortieren oder zu stricken oder so. Ich sitz halt hier. Die Energie und Motivation, die ich daheim fast schon auf Kommando anknipsen kann, fehlt mir hier völlig. Ich hoffe sie kommt wieder, das würde einiges vereinfachen. Jetzt nehm ich es mal so hin wie es ist. Erzwingen kann ich eh nix. Andererseits ist da sitzen, auf Kundschaft warten und sich fadisieten sowas von NORMAL, dass es schon fast kitschig ist.

Leider ist das halt eine andere Art Langeweile, die mehr an Gleichgültigkeit grenzt an als „ich hab grad nix zu tun“. Aber auch das werde ich wieder in den Griff kriegen, da bin ich mir mittlerweile sicher.

Zum Glück gibts Whatsapp, seit über einer Stunde tipp ich schon mit Tommi, nebenbei mit den Kindern und der Familie.

Und ich freu mich auf den Feierabend, mittlerweile ist mir mein Haus wieder mein „Nest“ geworden, in dem ich mich wohlfühle und auch die Abende ganz gut hinkriege (naja, bis auf gestern halt). Und für einen Feierabend muss man halt vorher auch was arbeiten, sonst gibts keinen.