12. Woche – 84 Tage

Was soll ich sagen, es wiederholt sich immer und immer wieder. Ich hab das Gefühl, am Fleck zu stehen und keinen Schritt weiterzukommen. Gute Tage – blöde Tage, Kraft – Energielosigkeit, Hoffnung – Verzweiflung, Lachen – Tränen… es wechselt sich ab, immer und immer wieder.

Es gibt Dinge, die kann ich nicht mit Worten erklären. Da wünschte ich, ich könnte mein Gefühl weitergeben und einfach sagen: Hier, spür mal, dann verstehst du, was ich meine.

(Twitter)

Die Wochenberichte – eine Momentaufnahme wie die Corona-Schnelltests, schon beim Abschicken kann sich die Stimmung wieder geändert haben. Vorige Woche voller Zuversicht und motiviert, kaum ein paar Stunden später ein tiefes, tiefes Loch, aus dem ich erst seit gestern langsam wieder rauskraxel. Trauer, die mich hinterrücks überfällt, mich unbegründet (?) in Tränen ausbrechen lässt, einfach so.

Ja, ich komm trotzdem weiter, manchmal halt nur auf allen Vieren robbend, ich versuch es immer und immer wieder. Stelle mich Herausforderungen, die noch vor 3 Monaten keine waren. Ein Punschtreffen mit Freunden – was lieb gemeint war, wurde zum Alptraum. Paare, die gemeinsam kommen, sich unterhalten – wie früher. Nur für mich gibt es kein “Früher” mehr, ich fühl mich fehl am Platz, als fünftes Rad am Wagen. Ich kann keinen Smalltalk mehr – egal ob über die Arbeit, Corona, Politik, Weihnachtsfeiertage. Das eine interessiert mich nicht, das andere existiert nicht mehr. Das ist gemein und unfair – sie haben es ja gut gemeint, ihnen ist kein Vorwurf zu machen. Sie bringen Normalität rein, machen alles “wie immer”. Nur für mich gibt es kein “wie immer” mehr. Ich bin es, die so nicht mehr funktioniert.

Dann wieder die Momente der Rebellion – ich will nicht mehr in diesem Loch sitzen, mit dem Stempel “Trauernde” auf der Stirn. Das bringt mir Richi auch nicht zurück. Wenn ich schon alleine hierbleiben muss, will ich wenigstens l e b e n! Meine Liebe zu ihm anhand der Länge und Intensität meiner Trauer zu messen, ist absolut schwachsinnig. Sie ist ohnehin nicht messbar.

Ich baue weiter am “Haus-und-Heim-Nestchen”, mach die Garderobe fertig, stelle den Christbaum auf und schmücke ihn – am Sonntag Nachmittag binnen 30 Minuten. Bloß nicht nachdenken, einfach tun. Eine Weihnachtsdeko, nicht mehr. Damit ist der 23. umgangen, wo ich dann abends alleine im Wohnzimmer gestanden wäre, ohne Actionfilm und Richi, der Zuckerl anschnürlt und fragt, wieviele er noch muss. Und nebenbei die Hälfte davon gleich isst. Nun ist der 23. ein Abend wie jeder andere.

Ja, ich habe einen “Jahresplan”, der die komplette Renovierung des Hauses und des Garten beinhaltet, der die Räume in einzelne Wohlfühloasen verwandelt, in Themenbereiche, wo man dann mal alles findet, ohne im ganzen Haus zu suchen. Und ja, ich bleibe da auch dran, manchmal lustlos, manchmal motiviert. Zeitweise völlig überfordert, weil es so viel ist, was zu tun, umzuräumen, zu sortieren ist. Manchmal wünsch ich mir, alle Veränderungen rückgängig zu machen und nie wieder etwas im Haus zu verändern. Aber das wäre “Lügen ins eigene Sackerl”, wie Richi immer so schön sagte. Denn das Wichtigste würde ja immer noch fehlen – ER! Diese Veränderung ist nun mal nicht rückgängig zu machen.

Ich erlebe immer noch so vieles GLEICHZEITIG!
Einerseits die sichtbaren Veränderungen, die mir gefallen (ich liebe meine neue Garderobe und meinen Abstellraum), andererseits der Wunsch nach Vertrautem und Gewohntem.
Einerseits der Wunsch mir mein neues Leben schön zu gestalten, andererseits der ebenbürtige Wunsch, mein altes Leben zurückzubekommen.
Einerseits der Wunsch nach Ruhe und Zurückgezogenheit, andererseits das Bedürfnis zu reden, zu erzählen, nach Kontakten zur Außenwelt.

Ja, wieder fällt mir einer von Richis Sprüchen ein: “Von allem zwenig und zviel is den Narren ihr Ziel!”

Oder, wie ich vor Kurzem wo las: Manchmal ist alles zuviel, während es nicht genug ist.

Ich will alles und nichts. Dieses ständige Wechselbad und diese Zerrissenheit ist nervtötend und zermürbend. Wenn ich etwas weiterbringe, bin ich stolz auf mich, weiß, dass ich alles schaffen kann und es wichtig ist, dass ich mir selbst genug bin und alles aus mir kommen muss. Dann bin ich motiviert, mein Leben in die Hand zu nehmen und das alles als Erfahrung zu nehmen, an der ich wachsen kann.
Wenn ich mies drauf bin, bemitleide ich mich selber und verfluche mein “Schicksal”. Warum auch nicht, den anderen tue ich auch leid, warum nicht mir selber? Selbstmitleid in Reinkultur quasi. Dann möchte ich bloß, dass es jemand anderen getroffen hätte und nicht mich, fühl mich hilflos und unfähig, auch nur irgendetwas zu ändern.

Aber ich spüre (wieder) die Kraft in mir, leben zu wollen, meine Tendenz, lösungsorientiert zu denken, Dinge hinzunehmen, die ich sowieso nicht ändern kann und das Beste aus jeder Situation zu machen. Auch dann, wenn ich grad wieder sehr, sehr traurig bin. Ich fange wieder an mir eine Zukunft auszumalen (und werde wieder ungeduldig, dass es nicht schneller geht *grins*), vielleicht noch nicht ganz so bunt wie noch vor wenigen Monaten, aber zumindest nicht mehr schwarz-weiß. Ich merke, dass mich mehr meine überholten Glaubenssätze zurückhalten denn sonst irgendwas. Dieses “das geht doch nicht”, “das ist zu früh”, “das schickt sich nicht” ist eben auch in meinem Kopf verankert, da haben 22 Jahre Richi-Schule nicht viel geändert. Und er ist nicht mehr da um sie weiter aufzulösen und mir vorzuleben, dass es sch***egal ist, was sich schickt und was andere denken. Ich muss mir das jetzt selbst vorsagen – hat leider nicht die gleiche Wirkung.

Man ändert sich eben nicht grundlegend, nur weil sich alles verändert. Vielleicht wird man gelassener oder ruhiger oder mutiger, aber wenn die Grundzüge dafür vorher nicht da waren, tauchen sie jetzt auch nicht plötzlich auf. Vorhandene Charaktereigenschaften verstärken sich vielleicht, das wohl.
Ich bin egoistischer geworden, rücksichtsloser – gleichzeitig reg ich mich lang nicht mehr so intensiv über irgendetwas auf als früher. Kurz ja, aber bald ist es mir wieder egal.
Ich achte mehr auf mich und meine Stimmungen, handle bewusster und gleichzeitig intuitiver.

Die Woche

Der Lockdown ist zu Ende, das Geschäft ruft wieder und beschert mir das gute Gefühl, das Richtige zu tun – die Leute nehmen die Angebote sehr gut an. Dadurch vergeht der Tag schneller, sinnvoller. Daheim ist genug zu tun um Abende und Wochenenden zu füllen. Ich bin gern daheim und freue mich auf meinen ersten echten Urlaub. Geschäft zu, Handy aus, 10 Tage nur ICH, meine Kinder und Ruhe. Schlafen, wann ich will, herumräumen, wie ich will, keine Verantwortung und Verpflichtung. Ja, ich bin gerne daheim in meinem Kuschelnest, auch wenn (oder gerade deshalb?) ich nirgends anders so alleine bin wie dort. Aber auch beschützt, behütet, von der Energie meines Mannes umgeben und eingehüllt. Dort ist er präsent, dort fühl ich mich ihm ganz nah. So weh das oft auch tut, egal, bei welcher Tätigkeit. Ob ich nun etwas Neues gestalte und ihm zeigen möchte, ob ich koche und mich frage ob es ihm geschmeckt hätte, ob ich etwas nicht gleich wegräume und seine leicht vorwurfsvolle Stimme höre – er ist immer DA.

Ich kann mittlerweile wieder gut handarbeiten, lesen, mich meinen Hobbys widmen, interessiere mich auch wieder für andere Dinge als mich selbst (manchmal) und krieg terminliche Verpflichtungen koordiniert – dauert manchmal halt nur ein bissl. Ich kann mir auch “passende” Filme anschauen wie “Stadt der Engel” oder “Die Hütte” – ich finde sie irgendwie tröstlich. Weihnachtsfilme gehen sowieso immer, Netflix hab ich glaub ich mittlerweile durch an Christmas-Kitsch.

Ich lasse mich immer gerne führen, mich hinschubsen auf etwas, was grade hilft, freue mich über Kleinigkeiten, die mir zugespielt werden (von wem wohl?), über Sätze, die ich lese, Aufmerksamkeiten, die mir zuteil werden, über Dinge, die passieren.

Kim übernimmt dankenswerterweise trotz eigenem Job immer noch 1 Tag in der Woche im Geschäft – die ganze Woche arbeiten ist mir nach wie vor zu viel. Das hab ich in der letzten Woche gemerkt: Feiertag offen, Samstag offen und der freie Tag war vollgestopft mit Terminen (wenn auch schönen). Das ist mir zu viel, ich brauch immer noch meine Pausen, meine Auszeiten. Der Rückzug, wo keine Termine und Arbeiten anstehen, ist mir mittlerweile sehr wichtig geworden. Hatte ich anfangs Angst vor dem Leerlauf, kann ich die Leere jetzt schon fast genießen. Dieses Nichtstun, einfach nur in der Jogginghose herumgammeln, bissl fernsehen, bissl stricken, bissl schlafen – das tut mir gut. Bewusst die Leere nicht füllen mit Tätigkeiten, sondern aushalten und genießen. ich mochte auch früher schon Wochenenden oder Kurzurlaube, wo ich NICHTS tun musste, keine Arbeiten oder Aktivitäten anstanden und ich einfach nur sein durfte. Leider waren sie viel zu selten, ich hätte Richi mehr davon gegönnt.

Der Schmerz und die Trauer sind nicht weniger geworden oder weniger intensiv – aber ich lerne, damit zu leben. Ich wehre mich nicht dagegen, wenn sie mich “besuchen” kommt, ich lasse sie zu. Ist dann halt grad so. Dann lass ich mich fallen, auch ins Bodenlose. Weil ich mittlerweile gelernt hab, auch diese Phasen hören irgendwann auf und dann geht es wieder eine zeitlang besser, egal wie weit unten ich wieder war. Ebenso wie ich in den guten Phasen weiß, sie sind nicht der Endzustand und flachen wieder ab.

Trotz allem bin ich froh, wenn der Dezember vorbei ist – und so sehr ich es hasse, dass bald das Jahr 2020 vorbei ist (und ich dann sagen muss: “Mein Mann ist VORIGES Jahr gestorben”) und ich dann nicht mehr in dem Jahr leben kann, in dem auch Richi noch gelebt hat – so sehr hoffe ich auf einen Neuanfang im Jänner, wenn das neue Jahr noch unberührt vor mir liegt.

Ja, es wird das erste Jahr, das Richi nicht mehr erlebt, das erste von vielen. Das Jahr in dem alles, was erinnert “voriges Jahr” war, in dem alles zum ersten Mal ohne ihn stattfinden wird.
Es wird aber auch das erste Jahr meines neuen Lebens, wo es nur darum geht, was ICH schaffe und ERschaffe.

Angst und Vorfreude, Hoffnung und Widerwillen, Trauer und Mut, grenzenlose Liebe und Wut, Verzweiflung und Rebellion, Nach-vorne-schauen und Zurückblicken, Erinnerung und Neues schaffen – die Gleichzeitigkeit wird mich wohl noch lange begleiten. Vielleicht gewöhn ich mich irgendwann dran.

Und vielleicht schaff ich es irgendwann (bald), all die Glaubensmuster abzuschütteln und mein Leben mit Freude neu zu gestalten, in dem Wissen, Richi ist mir jetzt näher als je zu Lebzeiten. Ohne immer wieder zurückgeworfen zu werden. Mit einem Lächeln und einer Träne. Stark, gefestigt, mutig, zielstrebig.

Mit ihm, durch ihn, für ihn. Weil er es nicht mehr kann. Das wünsch ich mir.