11. Woche – 77 Tage

Immer wieder unfassbar, wenn ich die Überschrift des Wochenberichts schreibe – 11 Wochen? ELF??? Das muss ein Tippfehler sein. Seit 77 Tagen muss ich schon ohne meinen Mann klarkommen – die wohl größte Überraschung dabei ist, dass ich überhaupt noch lebe. Nicht wie, sondern warum. Wie kann man einfach weiter atmen, weiter funktionieren, weiter alltäglichen Tätigkeiten nachgehen wenn doch alles weg ist, was je wichtig war? Wenn es überhaupt keinen Sinn mehr gibt, für den es sich zu weiterzuleben lohnte, kein Ziel, keine Zukunftspläne. Und doch funktioniert es, die Anpassungsfähigkeit des Menschen an sich ist unglaublich.

Und dann fand ich (fand mich?) ein schöner Spruch, der mir zeigte, es gibt immer 2 Seiten – und man hat immer die Wahl:

Was wollte ich? Ewig weiter trauern? Oder dankbar sein für die vielen Jahre, die wir gemeinsam hatten? Noch ist es zu früh für eine endgültige Antwort, aber sie taucht immer wieder mal auf.


Ist mir grad eingefallen, als ich vom Einkaufen heimfuhr: Ich hatte mal ein hübsch eingerichtetes Haus, kuschelig, heimelig, schützend. Von einem Tag auf den anderen hat jemand alle Möbel entfernt, nur das Haus, die Hülle blieb stehen. Nun bekomme ich jeden Tag eine Lieferung vom Ikea und sitze vor Schachteln mit vielen Schrauben und unverständlichen Anleitungen. Das Coverfoto zeigt eigentlich recht hübsche neue Möbel, mit ein bisschen Geschick lässt sich das Haus auch wieder heimelig einrichten. So weit bin ich aber noch nicht – noch versuche ich die Anleitung zu entschlüsseln, verzweifle dazwischen, weil es so kompliziert aussieht, packe hier aus, fange dort an, freue mich wenn etwas richtig zusammengebaut erscheint. Manchmal muss ich nochmal von vorne beginnen, weil Teile nicht passen oder ich etwas falsch herum montiert habe. Ab und zu bleiben ein paar Schrauben übrig, etwas wackelig noch. Doch mit jedem Stück, das ich zusammensetze, lerne ich, werde besser, schneller und routinierter. Es gibt schon kleine Inseln im Haus, die gemütlich aussehen, auch wenn überall noch etwas fehlt. Aber es ist möglich, es ist schaffbar. Und so baue ich weiter, Stück für Stück – mein haus, meine Möbel, mein Leben.

Die Woche

Aufwühlend, besonders, spannend, abwechslungsreich – so könnte man sie beschreiben. Es ist viel passiert, doch das Schönste heb ich mir bis zum Schluß auf.

Den Lockdown haben Lucy und ich ziemlich gut hingekriegt, es gab einen ziemlich geregelten Tagesablauf, wir haben beide fleißig gearbeitet. Am Samstag fühlte ich mich gut genug, mich endlich Richis Büro zu widmen. Puh, ich hatte entweder mich über- oder die Arbeit unterschätzt. Das Büro war einer der wenigen Plätze im Haus, die zu 100% SEINS war. Durfte man im Wohnzimmer oder im Werkzeugkammerl schon mal was rausnehmen oder suchen, so hatte ich in seinem Büro nicht mal die Tür zum Kasten je geöffnet. Ich hätte eh nix gefunden und er sah das, sobald er abends bei der Tür reinkam, das jemand in seinem Heiligtum war.

Viele uralte Computerspiele, PC-Teile, deren Zweck mir verborgen blieb, Handyhüllen und alte Handys, Wertkarten, die irgendwo mal dabei waren und wahrscheinlich gar nicht mehr funktionierten, Stifte, USB-Sticks, Kabel… eigentlich gar nichts so Schlimmes wie befürchtet. Trotzdem brauchte ich viele Pausen, es war so ein „Stierln“ in seinen Sachen. Ich packte alles in Kisten und brachte die in seinen Abstellraum in den Keller. Aussortiert habe ich noch nichts. Er hat die Sachen aufbewahrt, also bleiben sie vorerst hier.

Das klappte gut, bis ich auf seinen alten, heißgeliebten Blackberry stieß. Früher allgemeines Firmenhandy, war Richi zum Schluß der Letzte in der Arbeit, der noch im Blackberry-Server hing und sich gegen das iPhone sträubte. Irgendwann musste er sich fügen, holte sich aber SEIN Handy nach Hause. Und nun lag es da, in der abgegriffenen Hülle. Danach ging gar nichts mehr, der restliche Samstag katapultierte mich an den Anfang zurück, ich stand wieder bei Null. So weit unten war ich schon lange nicht mehr, die Wellen flachen sich langsam ab, sind nicht mehr so intensiv. Diesmal fiel ich wieder ganz weit.

Irgendwann hab ich es trotzdem geschafft, das Büro zu räumen. Neu eingeräumt habe ich es noch nicht.

Am Sonntag nahm ich mir den Abstellraum vor, das sollte schnell gehen. Ja, Pustefix – da der aus 2 Außenwänden besteht, trocknete der erste Anstrich nicht und ich musste 2 Tage lang mit all dem Kram im Vorzimmer leben. Für mich mittlerweile fast unerträglich, so eine Unordnung.

Nachmittags gab es dann den traditionellen Nikolopunsch, der überraschenderweise ziemlich schön verlief.

Am Montag besorgte ich mir durchsichtige Plastikboxen, um den AB schön und übersichtlich einzuräumen. Durch die Boxen habe ich alles nach Kategorien sortiert und komm auch an Sachen weiter hinten ran, weil ich die Boxen wie Schubladen rausziehen kann. Mir gefällts – und irgendwie ist das eines der ersten Dinge, die ich genau so gestalte, wie ich das haben möchte, ohne auf Geld oder andere Meinungen Rücksicht nehmen zu müssen. Früher, wenn ich etwas abzuändern versuchte, war es oft nicht halb, nicht ganz. Entweder fehlte das Geld für ein einheitliches Aussehen oder die Veränderung wäre zu extrem gewesen.

Durch eine Netflix-Aufräumserie (ich liebe diese Serien) kam ich auf die Idee, das Haus in Bereiche einzuteilen. Ich habe viele Dinge und viele Hobbys, aber alles irgendwo im Haus verteilt. Wo halt Platz war. Jetzt habe ich ein ganzes Haus quasi für mich alleine und kann alles zusammenfassen und auf die einzelnen Räume aufteilen. Ein Langzeit-Projekt! Ja, ich hatte gerade meinen ersten Zukunftsplan gemacht. Und er gefiel mir.

Vor einiger Zeit hatte ich schon aufgehört, Trauerbücher zu lesen. Normale „Strand“-Literatur geht zwar immer noch nicht, aber das Thema der Sachbücher hat sich geändert. Von „Wie überlebt man Trauer?“ zu „Das wird nie wieder GUT“ kam ich zu „Wie kommuniziert man mit der geistigen Welt?“ und Erfahrungsberichten von Menschen, die auch schon jemanden verloren hatten. Dabei stieß ich auf ein Buch einer Wienerin, die mit 47 ihren Mann verloren hatte und sich vorher schon viel mit Medialität und dem Leben nach dem Tod beschäftigt hatte. Auch sie spürte sofort die „Anwesenheit“ ihres Mannes, konnte mit ihm reden und empfing Botschaften. Und trotzdem war sie todtraurig, unglücklich, verzweifelt. Für mich schloß sich mit dem Buch die Diskrepanz zwischen „mein Mann ist nicht mehr hier, ich ertrage das nicht“ und „aber ich spür ihn doch, ich WEISS, das er bei mir ist, ich muss nicht traurig sein“.
Ständig sprang ich zwischen den beiden Extremen hin und her und zweifelte an beiden Welten. Entweder bin ich traurig oder lebe weiter, weil er eh da ist. Beides war für mich nicht vereinbar. Durch das Buch hab ich aber gelernt, dass doch beides gleichzeitig erlebbar ist.
Ja, er ist immer noch bei mir, auf ewige Zeiten. Ich kann ihn spüren, mit ihm reden, darauf hoffen, dass ich ich meine Lebensfreude wieder finden, meinen Weg gehen, meinen Seelenplan erfüllen. Trotzdem kann ich trauern um gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Pläne und Ziele und physisches Zusammensein. Es ist kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch.

Ein weiterer Schritt war es mich in einigen Facebookgruppen für Witwen anzumelden und zu erkennen, wie viele andere Menschen es gibt, die gerade in der gleichen Situation sind. Die ebenfalls ALLE der Meinung sind, sie hätten den wertvollsten Menschen auf Erden verloren. Haben sie auch, keine Frage – jede in ihrer Welt. Es macht Richi nicht belangloser, aber es relativiert die „Einzigartigkeit“ meines Schicksals. Ich mag dort nix schreiben oder erzählen, aber ab und zu lese ich quer. Und dabei fiel mir auf, das in diesen Gruppen viele Frauen sind, die ihren Partner vor Jahren verloren hatten und immer noch völlig verzweifelt sind.
Wollte ich das? NEIN! Nein, nein, nein! Ich möchte nicht in 2, 3 oder 5 Jahren allein und einsam daheim sitzen und um die Vergangenheit weinen, die nie wieder zurückkommen wird. Klar, ich möchte trauern, solange dieser Prozess eben dauert, aber ohne die Aussicht, irgendwann mal wieder Freude, Glück, Heiterkeit zu empfinden sehe ich keinen Sinn darin, diesen Weg zu gehen. Den Rest meines Lebens – ob jetzt 10, 20 oder 22 Jahre – nur darauf warten, dass es vorbei ist? Das kanns nicht sein.

Außerdem habe ich festgestellt, dass ich das Wort „Witwe“ beziehungsweise „verwitwet“ absolut nicht leiden kann und mich auch nicht als solche empfinde. Ich fühle mich nicht verlassen. Ich fühle mich immer noch verheiratet – mit einem Engel.

Bisher war ich ja in einer Blase geschützt, all meine vorigen körperlichen Zipperlein wie Krampf im Fuß wenn mir kalt ist, Schulter- und Nackenschmerzen (seit Jahren), Kreislaufprobleme, Einschlafschwierigkeiten etc waren wie weggeblasen. Dafür träumte ich nicht mehr. In den letzten Tagen kamen meine kleinen Problemchen langsam wieder, ich konnte nicht gleich einschlafen, ich wachte mit Nackenschmerzen auf. Nichts Tragisches, nur lästig.

Von Sonntag auf Montag wachte ich gegen 3 Uhr früh auf und konnte nicht mehr einschlafen. Toll, und das am ersten Arbeitstag nach dem Lockdown. Ich machte mir einen Kaffee und kuschelte mich dann auf die Couch. Ich fiel in einen komischen Schlaf – man hat das Gefühl, die ganze Zeit wach zu sein, wenn man auf die Uhr schaut, ist aber trotzdem plötzlich eine Stunde vergangen. Und ich träumte – wenn man das so nennen kann. Denn erstens konnte ich mich nach dem „Aufwachen“ an jedes Detail erinnern und zweites hatte ich noch nie im Leben einen so realen „Traum“.

Ich wusste im Traum (nennen wir ihn mal so, ich weiß nicht, was es wirklich war), dass Richi tot ist, als er sich zu mir auf die Bank setzte. Ich fragte ihn auch danach, wie er „hier“ sein konnte. Ich hörte seine Stimme, hörte ihn antworten, dass dies möglich sei, wenn ich das möchte. Und dann legte er seinen Arm um mich und hielt mich fest – und ich konnte es spüren. Nein, nicht wie in einem Traum oder in Gedanken – in WIRKLICH. Ich kanns nicht erklären und wahrscheinlich versteht es auch niemand – aber er war HIER und fühlbar, spürbar, erlebbar. Einzelheiten wie seine Haut, sein warmer Bauch, seine Haare – all diese Details waren spürbar. Ich strich mit meinem Finger über seine Narbe am rechten Unterarm – und spürte die leichte Vertiefung, die Härchen, die Wärme der Haut.
Das für mich wichtigste Indiz für diese „Begegnung“ war das Gefühl nach dem „Aufwachen“: es war so, als wär er nur schon zur Arbeit gefahren und deshalb nicht mehr im Wohnzimmer. Also nicht weg und fort, sondern nur gerade eben mal abwesend, weil die Arbeit ruft. Nun ja, niemand ist traurig oder betrübt, wenn sein Mann zur Arbeit fährt – also warum sollte ich es dann jetzt sein?
Und so gestaltete sich der ganze Montag – ich fuhr zur Arbeit, kam heim, machte Mittagessen, malte die Rückwand im AB aus, fuhr einkaufen und nochmal ins Geschäft, kam heim, malte fertig aus, aß zu Abend, räumte den Abstellraum wieder ein, schaute mir einen Weihnachtsfilm an…
Diese Energie hält immer noch an, obwohl ich diese Begegnung noch nicht wieder reproduzieren konnte. Ich bin aber überzeugt, das es sich wiederholen wird, wenn der Zeitpunkt passt.


Gerade hat mich ein sehr schönes Lied gefunden:

Das hier ist für uns von Partybiker

Ja, momentan geht es mir gut – besser, als ich dachte im Advent und der Weihnachtszeit. Mal sehen, wie lange es hält und wie die nächste Woche wird.

Ich geh jetzt erstmal ein neues Ikea-Regal zusammenbauen – im wörtlichen UND im übertragenen Sinne.