10. Woche – 70 Tage
Gedanken
Unglaublich, 70 Tage, wenn ich diese Zahl sehe, denk ich mir: das kann doch gar nicht sein. Und doch ist es so. Kriegt mein Kopf nicht in Einklang.
Mittwoch, Donnerstag ging die letzte “dumpfe” Phase wieder mal zu Ende. Ich räumte, putzte, machte, die Abende klappen immer besser, in meinem neuen Schlafzimmer fühl ich mich wohl und geborgen.
Dann kam mein Geburtstag und in der Früh wünschte mir jemand, dass ich an diesem Tag ganz viele Momente erleben möge in denen ich erkenne, wie wichtig ich den Menschen um mich bin und wie schön es ist, noch DA zu sein.
Dieser Wunsch wurde mehr als erfüllt – die Kinder kamen, meine Freundinnen waren bei mir, unzählige Nachrichten, ein leckeres Essen und ganz viele liebevolle Geschenken, bei denen sich die Menschen etwas dabei gedacht hatten. Ja, der Tag war wunderschön – und tieftraurig. Gleichzeitig. Wieder einmal bewies mir Richi, wie wichtig und richtig es ist auf ihn (und meine Intuition) zu hören. All diese „spontanen“ Ideen und Aufträge, die ich kriege kommen nur von ihm, davon bin ich überzeugt.
Immer wenn ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll, wenn ich Angst habe vor einem Ereignis, dann ist da ein Gedanke, ein Bild in meinem Kopf, das mir zeigt, wie es gehen könnte. Das ist schwer zu erklären, es ist ein bisschen so als ob man den Fernseher einschaltet und mitten in einem Film landet, der schon eine Weile läuft. Man sieht eine Szene und dann schaltet das Programm um.
Ich sitze und starre das Foto an, werde traurig – und plötzlich ist das Bild des fertigen Vorzimmers da. Und dann kann ich nicht anders als aufzustehen und anzufangen zu malen. Auch wenn es schon Nachmittag ist und ich vielleicht gar keine große Lust hab. Und dann denk ich auch nicht mehr weiter darüber nach, sondern erledige die mir gestellte Aufgabe. Egal ob das jetzt Gartenwasser ablassen, Räume ausmalen oder Dankeskarten schreiben ist.
Ich hab dann oft auch das Gefühl, dass gar nicht ich es bin, die diese Arbeiten erledigt. All diese Fertigkeiten und die Kraft, auch schwere Dinge zu schleppen, das Durchhaltevermögen, die Konsequenz – das bin nicht ICH.
Nun hab ich also das erste Fest, vor dem ich solche Angst hatte, so schön verlebt. Das gab mir Mut, mich mit dem nächsten auseinanderzusetzen, das weit emotionaler und schwieriger wird. Weil es so traditionsbehaftet ist. Ja, Weihnachten. Die Adventzeit. Silvester, der erste Geburtstag eines unserer Kinder ohne Papa. Der Dezember wird brutal. On Top kommt auch noch Corona, wo ohnehin alles anders ist, anders sein muss, weil Traditionen gar nicht umgesetzt werden können. Zu viele Menschen in geschlossenen Räumen, die Angst, jemanden aus der Familie anzustecken.
Ich hab mich langsam herangetastet, als die ersten Fragen der Kinder auftauchten, wie wir denn nun heuer Weihnachten feiern sollten. Hab erstmal probiert wie es sich anfühlt, Weohnachtsdeko aufzuhängen.
Ich dekorierte mit Lichtern, weil Richi sie so geliebt hat. Diese Zeit wo man kein Licht braucht weil überall Lichterketten hängen.
Und ich habe dabei Rotz und Wasser geheult, weil Richi das so geliebt hat und es nun nicht mehr sieht.
Wie sollte ich bloß den ganzen Dezember überstehen mit Adventsonntagen, Keksen, keinen Punschhütten, kein Nikolaus-Punschtrinken, alle Kinder am 24. bei mir ohne ihren Papa, Familienessen ohne Richi, Silvester daheim statt am Campingplatz… Nein, nein, NEIN! Das ist zu viel. Dazu die Angst, durch die vielen Kontakte vielleicht auch noch meinen Papa anzustecken und schuld zu sein, dass er alleine im Spital liegen muss. Auch wenn uns allen die Pandemie zum Hals raushängt – es ist eine schlimme Krankheit, die tödlich enden kann, das darf ich in all meiner Trauer nicht vergessen. Alternative sah ich keine.
Bis zu einem Abend, wo ich mal wieder da saß und nachdachte und Richi um Hilfe bat.
„Sag mir was ich tun soll, ich komm allein nicht weiter.“
Und da war es wieder, das „fertige“ Bild, die Filmszene. Einfach da – und gefühlt perfekt. Ein „uralter“ Wunsch, einmal „amerikanische“ Weihnachten zu feiern. Der Baum kommt jetzt schon in der Adventzeit ins Wohnzimmer, der Fokus auf einen einzelnen Tag wird entzerrt. Wir feiern 3 Wochen lang Weihnachten. Der 24. selbst? Eine Art „Open House“- Tag, wo jeder wann er Zeit und Lust hat, vorbeikommen kann. Kein Zuspitzen auf DEN Abend. Kein Versuch, jahrzehntelange Traditionen gewaltsam aufrecht zu erhalten und vorher schon zu wissen, das kann nicht gut gehen, weil das riesige Loch zu groß und zu spürbar wäre. Alles GANZ anders machen, so wie noch nie. Denn dann gibt es auch keine Vergleichsmöglichkeiten, die alles noch schlimmer machen würden. Keine Ente am Abend, keine 8 Kinder/Schwiegerkinder/Enkelkinder im Wohnzimmer, die alle irgendwann heimgehen und mich die darauffolgende Stille noch viel stärker spüren ließen.
Tiffy hatte dann auch noch die liebe Idee, Richis Fichte im Garten zu schmücken – Freiluftchristkind mit Abstand. Gefällt mir, hoffentlich regnets nicht.
Das schöne an diesen Richi-Problemlösungen ist ja immer, das er an alles denkt und alles abdeckt. Ich fragte ihn, was „wir“ denn nun mit dem 25. machen sollten. Dass die ganze Familie zum Truthahn-Essen mittlerweile seit Jahren viel zu viel ist, ist die eine Sache. Dass das heuer wegen Corona sowieso nicht geht, ist die andere. Dass ich das nicht überstehen würde, ist die dritte Seite. Die mögliche Alternative, die im Raum steht, dass nur meine Schwestern und ich kommen, ist für mich heuer aber auch keine Option – ich möchte nicht die siebente ohne den Achten sein und alleine am Tisch sitzen. Und den anderen auch noch das Essen verderben, weil ich in den Truthahn weine.
Und nun? Einfach absagen und nicht kommen – dann fehlen zwei, das machts für die Familie auch nicht besser. Oder gibt es auch für diesen Tag ein Alles-Anders-Programm? Richi?? RICHI? Zeig es mir bitte.
Und er zeigte – und ich find es schön. Ob es machbar ist? Ich weiß es nicht, ich möchte niemandem auf den Schlips treten. Ich möchte nicht einfach bestimmen, noch dazu, wo die Truthahntradition ja nicht meine ist.
Für mich fühlt sich das Bild schlüssig und richtig an. Und ja, ich würd es mir wünschen, das es für alle Beteiligten ok wäre. Ich schreib das jetzt mal auch hier rein, dann hat jeder in Ruhe Zeit, darüber nachzudenken. ❤️ (jaja, Richi, das ist feige, aber so mutig wie du bin ich nicht, einfach was zu bestimmen)
Statt der Truthahntradition gibt es eine Richi-Enten-Gedenkessen bei mir, nur mit Mama und Papa. Papa bräuchte nicht stundenlang (tagelang) in der Küche stehen, Mama müsste sich nicht ärgern, dass es ihm zuviel wird, es wären keine 8 Familien in einem Raum, die sich gegenseitig anstecken könnten, es wäre leiser, es wäre ANDERS – und Richi wäre bei uns. Es wäre ein Essen für ihn, von ihm, mit ihm. Das wäre schön.
Also wenn ich mir für heuer zu Weihnachten was wünschen darf, dann das der Dezember und alle Feierlichkeiten so anders sind, dass es uns allen als besonderes Jahr in Erinnerung bleibt und nicht als das traurigste aller Zeiten.
“Kriegen wir Silvester auch hin?”, frage ich ihn als Nächstes. “Ja, aber davon erzähl ich dir ein anderes Mal, nicht heute.” Damit muss ich mich wohl begnügen. Ich weiß ja mittlerweile, dass die Antworten kommen – und (zumindest für mich) passen. Ich lass mich überraschen.
Die Woche
Ich nutze und „genieße“ die gute Zeit wieder, das hab ich mittlerweile gelernt. Jeden Tag so wie er ist, ohne ihn ändern zu wollen oder mich dagegen zu wehren oder ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn ich traurig bin, ist das halt so, es geht vorbei. Wenn es mir gut geht, ist das so, es geht vorbei.
Ich finde es schön, dass sich immer noch mein gesamtes A-Team so lieb um mich kümmert, sich immer wieder meldet und mit mir plaudert.
Ich finde es schön, mit meinen Schwestern und mit meinem Schwager einen so viel intensiveres Kontakt zu haben.
Ich finde es schön, dass unser Nest fast täglich kuscheliger und gemütlicher wird und Lucy und ich uns wohlfühlen.
Ich finde es schön, mir jeden Tag auf Netflix Weihnachtsfilme anzuschauen (ohne das jemand die Augen verdreht). 😉 Dabei Tee zu trinken, leckere Nusskekse zu essen, zu stricken.
Ich finde es schön, Dinge zu erledigen und abzuhaken, mit jedem Hakerl fühl ich mich freier und befreiter. Oft geht es gar nicht um die Sache selbst oder um das Ergebnis, nur um das Hakerl.
Ich finde es schön „normale“ Tage zu erleben, wo ich auch mal nix tue und nur auf der Couch rumgammel, was man halt an einem Wochenende so macht, wenn alle Arbeiten erledigt sind. Und ich bin dankbar, dass ich es kann.
Ich finde es schön intuitiv zu leben, auf mich und mein Bauchgefühl zu hören und dabei das Gefühl zu haben, dass Richi mir ganz nah ist.
Ich finde es schön dass ich in dem Glauben leben darf, dass ich mit ihm sprechen kann und er mir antwortet und das er nach wie vor hier bei mir ist, halt nur ohne menschlichen Körper. Aber alles, was IHN ausmacht, ist da. Und ist für mich spürbar.
Ich finde es schön eine Familie zu haben, die diesen Weg mit mir geht und den Schmerz und die Trauer mit mir aushält, die mich trägt und für mich da ist.
Und dann erreichen mich am Sonntag Abend wieder Lieder als Botschaften – passend zur aktuellen Gefühlslage. Lebendig, provokant, rebellisch, echt! Das Wochenende hat mich aufgeladen – und auch wenn ich weiß, dass das nicht von Dauer ist, JETZT ist es gut. Es TUT gut.
ITS MY LIFE von Bon Jovi: Its my life
…It’s my life
It’s now or never
I ain’t gonna live forever
I just want to live while I’m alive
(It’s my life)
My heart is like an open highway
Like Frankie said
I did it my way
I just want to live while I’m alive
It’s my life…
QUEEN: Don‘t stop me now: Dont stop me noe
…Tonight I’m gonna have myself a real good time
I feel alive
And the world I’ll turn it inside out, yeah
I’m floating around in ecstasy
So, (don’t stop me now)
(Don’t stop me)
‘Cause I’m having a good time, having a good time…
Es sind nur Minuten, die mir zeigen – mich erinnern lassen – was Lebensfreude bedeutet. Dann erlischt dieses Feuer wieder. Fürs Erste. Aber ich glaube wenn es einmal da war, kann es wieder kommen. Wird es wieder kommen. Nicht gleich, nicht heute, nicht morgen – ich hab auch noch ein bisschen Angst davor, kann es noch nicht richtig auskosten. Aber sie war da, die Freude am Leben. Wenn sie sich nur kurz zeigt, liegt das an mir, nicht an ihr – ich erlaube ihr (noch) nicht länger zu bleiben. Dazu ist es zu früh. Aber zum ersten Mal erlebe ich, das es möglich wäre.
Dazwischen sind wieder Stunden, in denen gar nichts geht, in denen ich in einer Zeitschleife im September gefangen bin, vom 144-Anruf bis zur letzten Minute im Krankenhaus. Wo ich in Gedanken jede Minute wieder erlebe, jede Berührung, die mir noch vergönnt war, die ich an seinem Bett stand, wo er noch “bei mir” war. Diese Zeiten sind nicht einfach, weil sie nichts bewirken außer unendliche Traurigkeit, Frust, leere – ich kann nichts ungeschehen machen, nichts ändern an damals. Aber ich lerne sie (besser) auszuhalten, denn wegdrücken empfände ich als noch schlimmer. Wie einen Verrat.
Ich wünsche mir, noch ein paar Tage in einer guten, stabilen Zeit verweilen zu dürfen. Mit viel Richi-Power. Immerhin müssen wir bald einen Christbaum aufstellen – und das hab ich noch nie gemacht. Also dann, Dezember – zeig mir, was du draufhast an “ich kann auch anders”.
Und er zeigt mir – allerdings anders als erhofft. Es ist der 1.12., ich hänge in der Früh den Adventkalender für Lucy auf – und weiß, mein Stimmungsbarometer passt sich dem Draußen an. Nebelig trüb, kalt, finster. Warum jetzt der Kalender das ausgelöst hat, kann ich nicht sagen, er hat eigentlich nichts mit Richi zu tun. Den hab ich vor 2 Jahren gehäkelt.
Auf jeden Fall bestärkt mich dieses Tief darin, den Dezember so weit es mir möglich ist anders zu gestalten, weg von allen Traditionen, zumindest heuer. Nur für dieses Jahr – wer weiß schon, was morgen ist?
Plötzlich hab ich wieder eine dieser “Wo-kommst-du-denn-her”-Ideen – ich mache einen Richi-Adventkalender. Jeden Tag gibt es ab heute hier am Blog ein Foto, eine Geschichte, ein Video, eine Erinnerung. Das wird zwar auch sehr emotional werden, aber vielleicht auch sehr schön. Bisher enden meine Erinnerungen meist mit 18. September, an Urlaube, Situationen, Alltagserlebnisse komm ich ganz selten ran – als wäre das alles erstmal ausgelöscht worden.
Ok, mein Schatz, dann kriegst du also erstmalig einen Adventkalender, ich werde mein Bestes geben.